Kapitel Sechsundzwanzig


Der Ozean.

Der Anblick jagte Khiray einen kalten Schauer über den Rücken. Das Wasser setzte sich endlos fort, bis zum Horizont - und anders als auf dem See von Alvanere, gab es hier kein im Nebel verborgenes Ufer. Tausend Kilometer Wasser, und noch einmal tausend Kilometer, ein Gebiet, weitaus größer als der Armygan, mit einigen eingebetteten Inseln. Ein Dutzend unbekannter Strände wartete, unendlich weit entfernt, bevölkert von Fremden.

Der Armygan endete hier, genau wie seine Vergangenheit. Launisch wie das Meer, wartete die Zukunft auf ihn.

Die Ostmole erstreckte sich bis zu den großen Werften; ihre Kais streckten sich wie die Zacken eines Kamms ins Wasser. Die großen Schiffe, Drei- und Viermaster, lagen an den längsten Kais in der Nähe der Flußmündung. Die Kais für kleinere Schiffe, Küstensegler und Kutter, befanden sich weiter entfernt. Lagerhäuser und Hallen säumten die andere Seite der Mole. Hölzerne Kräne fauchten dampfgetrieben auf Schienen umher. Hier gab es sogar so etwas wie die Men'schin-Eisenbahn, eine Kette aus gekoppelten Frachtloren, die hin und her rangierte.

Nirgendwo sonst im Armygan nutzte man Dampfkraft, Magie und Technik, Mechanik und Maschinen so intensiv wie in Drun'kaal. Jeden Tag legten hier Dutzende von Schiffen an, wurden ent- und wieder beladen; die Arbeiter erfüllten den Hafen mit hektischer Aktivität, während die Seeleute sich zu ihrem verdienten Landgang aufmachten.

Khiray hatte gehört, daß die Städte der Men'schin weit größere Häfen und prächtigere Gebäude besaßen, irgendwo im Imperium Dharwil, entlang einer anderen Küste an einem fremden Ozean. Aber für jemanden, der die Geruhsamkeit der kleinen Dörfer und die Abgeschiedenheit der Men'schin-Bergstädte gewohnt war, war der Anblick sinnverwirrend.

Einst war er hier gewesen als Junge, als naives Kind vom Lande, und er hatte die Zeit gehabt, Dinge zu erkunden und Abenteuer zu erleben. Aber die Lust auf spannende Erlebnisse war ihm vergangen. Hinter der Hektik des Hafens wartete kein geflüstertes Geheimnis, kein verborgener Schatz.

Sein Schicksal lag draußen, jenseits des Wassers.

Das Fuchstauren-Schiff war ein Zweimaster mit gedrungenem Rumpf, ein unbewaffnetes Handelsschiff für die Küstenseefahrt. Kisten und Ballen warteten vor dem Fahrzeug darauf, eingeladen zu werden. Kinnih saß auf einem dieser Ballen und sah gespannt zu, wie eine Fuchstaurin mit drei wölfischen Arbeitern diskutierte.

Der Wagen hielt nahebei. Khiray entlohnte die Zieher und ging zusammen mit Delley und Fryyk zu Kinnih hinüber. Der junge Dachs begrüßte sie, als seien sie Wochen getrennt gewesen. In kurzen Worten erklärte Delley ihm, was geschehen war. Kinnih zeigte sich entsetzt über den Verlust der 'Silbernen Ansicc'. Das Schiff war immerhin auch sein Zuhause gewesen, und sein Besitz, ebenso wie Delleys, war mit ihm untergegangen. Fast schämte sich Khiray, seinen Seesack bei sich zu haben - er war der einzige, der noch ein paar persönliche Sachen hatte retten können. Seltsam, wie manchmal innere Stimmen die Zukunft zu ahnen schienen; warum sonst hatte er den Sack gepackt?

Kinnih reichte schließlich Khiray das Dekka'shin. "Wir haben es nicht gebraucht; hier scheint es keine Straßenräuber zu geben."

"Wir hätten es sehr gut gebrauchen können", grummelte Delley. "Und die Straßenräuber sind wahrscheinlich alle von Galbren für seine Armee angeworben worden."

"Wir wissen nicht einmal, ob die Kraft des Erzengels gegen Galbren geholfen hätte, oder ob man sie nur gegen Dämonen einsetzen kann", schalt Khiray.

"Du hast Alvanere damit untergehen lassen", erinnerte ihn Kinnih.

Khiray nickte langsam. Ja, vielleicht hätte das Dekka'shin gegen Galbrens Söldner Glut und Feuer gespien, und er hätte die 'Ansicc' nicht opfern müssen. Die Waffe wog schwer in seiner Hand. Hatte er wieder einmal eine falsche Entscheidung getroffen?

Aber es war müßig, darüber nachzudenken. Die Dinge waren nun einmal passiert, und so bedauerlich der Verlust war - Galbren war mit dem Schiff untergegangen. Der verräterische Gouverneur hatte sein verdientes Ende gefunden. Der Gedanke verschaffte Khiray eine grimmige Befriedigung.

Dann fiel ihm etwas auf. "Wo ist Perlish?" Der Hirsch war nirgendwo zu sehen.

Kinnih hob die Schultern. "Er hat sich aus dem Staub gemacht. Sagte, daß sein Teil der Abmachung erfüllt wäre, und er müßte jetzt dringend ein paar gute Beutelschneider anwerben, um die reichen Säcke dieser Stadt ein bißchen ärmer zu machen."

"Er begegnet einem Erzengel und setzt dennoch seine verbrecherische Karriere fort", brummte Delley ungläubig.

"Ich hatte nichts anderes erwartet", seufzte Khiray.

"Er hat zwei Trollstahl-Schwerter mitgenommen", bemerkte Kinnih.

Die Schwerter, die sie Hhrugha wieder abgenommen haben. Khiray hatte nicht bemerkt, daß der Hirsch sie bei sich trug, als sie die 'Ansicc' verließen. Nun, so hatte wenigstens einer etwas davon - sie lagen nicht auf dem Grund des Flusses. Wie bedauerlich, daß Perlish/Pakkaht sie für seine zukünftigen Verbrechen einsetzen würde. In dieser Hinsicht gab sich Khiray keinen Illusionen hin: Perlish war kein liebenswerter Schurke oder mißverstandener Freiheitskämpfer. Er nahm von den Reichen, nicht um es den Armen zu geben, sondern für sich und seine - ehemalige - Bande. Er hatte geraubt, getötet, vergewaltigt, unschuldige Fellige terrorisiert und sein Leben außerhalb des Gesetzes verbracht. Er mochte seine guten Seiten haben, aber alles in allem hatte er den Kerker wohl verdient.

Vielleicht würden sich ihre Pfade eines Tages wieder kreuzen. Aber für den Augenblick beschloß Khiray, ihn zu vergessen.

Er selbst, Delley, Kinnih, Fryyk. Sie waren die letzten von der 'Ansicc'. Alle anderen waren tot oder zurückgeblieben. Die alte Mannschaft, Saswin, Farlin. Kaslin-Ray, Shooshun, Pallys, Sarmeen, Pakkaht. Die Fuchstauren. Der Kampf gegen die Dämonen hatte mehr Opfer gefordert, als Khiray zählen wollte.

"Haben die Fuchstauren Saljin geholfen?" wollte der Fuchs wissen. Er hätte sich die Frage sparen können; wäre es Saljin schlechter gegangen, hätte Kinnih ganz sicher nicht so ruhig auf dem Ballen gesessen.

"Sie ist auf dem Schiff, und ein Doktor kümmert sich um sie", gab der junge Dachs zurück. "Ich habe ihnen auch schon gesagt, daß Saljin in den Armygan gekommen ist, um Medizin zu kaufen. Sie wußten, was für eine Medizin, obwohl ich den Namen nicht sagen konnte; ich habe ihnen etwas von dem Gold gegeben, damit sie sechs Traglasten davon einkaufen."

Erleichtert nickte Khiray. Er hatte völlig vergessen, daß er Kinnih Gold mitgegeben hatte. Der Dachs hatte sich bereits um alles Nötige gekümmert; in diesen Tagen schien er mehr Umsicht zu besitzen als Khiray selbst. "Eines Tages wirst du ein guter Kapitän sein", stellte der Fuchs fest.

Kinnih strahlte. "Das werde ich, Kapitän!"

Die Fuchstaurin schien ihre Diskussion mit den Arbeitern beendet zu haben und kam zu der kleinen Gruppe herüber. Sie war erheblich älter als Saljin, eher in Aryfaas Alter, und ihr Fell war vom salzigen Seewind zerzaust und angegriffen. Alte Narben zogen weiße Spuren durch ihr kastanienbraunes Haar. Sie war kräftig, muskulös und wahrscheinlich so zäh wie altes Leder. "Ihr seid Khiray, Kapitän der 'Silbernen Ansicc'?"

Der Fuchs straffte sich. "Ich bin Khiray vom Fluß. Mein Schiff wurde leider vor kurzem zerstört; den Titel Kapitän kann ich nicht länger in Anspruch nehmen."

Die Fuchstaurin sah ihn nachdenklich an. "Vom Fluß, eh? Ein Fuchstauren-Name. Hat sie ihn Euch gegeben?" Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung des Schiffes.

"Ja."

"Ich bin Balashain von den Grünen Klippen, Kapitän der 'Doorken'. Eines Tages müssen wir die Geschichte unserer Namen tauschen. Ich hoffe, Ihr könnt gut erzählen."

"Ich bin Händler, kein Erzähler, aber ich denke, die Geschichte wird Euch dennoch gefallen. - Wie geht es ihr?"

Balashain runzelte die Stirn. "Nicht sehr gut, aber auch nicht sehr schlecht." Sie winkte ihm zu, er solle ihr folgen. Zusammen betraten sie über eine schwankende Planke das Schiff.

Meeresschiffe waren gänzlich anders gebaut als Flußschiffe, und dies war noch nicht einmal ein Dampfer. Taue spannten sich überall, liefen über Rollen, waren auf Reifen aufgewickelt. Das Holz war verteert, der Geruch nach Salz und Fisch hing in allen Ritzen. Die Aufbauten waren flach und stellten kaum mehr dar als Zugänge zu den Räumen unter Deck, alles andere wäre den Segeln und Wanten im Weg gewesen. Drei oder vier Fuchstauren bewegten sich auf Deck, zu wenige, als daß sie die ganze Besatzung stellen konnten.

Sie stiegen eine Treppe hinab, die für Fuchstauren zu steil und zu schmal zu sein schien, aber Balashain bewegte sich auf ihrem Schiff mit der Sicherheit jahrelanger Gewöhnung.

Saljin befand sich in einer engen, niedrigen Kabine, die mit nichts zu vergleichen war, was es auf der 'Ansicc' gegeben hatte; dort waren selbst die billigsten Kabinen größer gewesen.

"Ich habe sie hier in meinem Raum einquartiert", bemerkte Balashain. "Es ist der größte auf dem Schiff. Die Mannschaft bewohnt sonst die Quartiere zu dritt oder viert; es wäre sicher keine gute Idee, sie dort auf Hängematten unterzubringen." Khiray war froh, keinen Kommentar zu den Räumlichkeiten abgegeben zu haben. Immerhin gab es hier so etwas wie ein Bett mit einer Matratze.

Ein männlicher Fuchstaur war bei Saljin, offenbar der Doktor, sehr alt und mit weißen Strähnen im Fell. "Ich habe ihr etwas Poloh gegeben; sie schläft jetzt. Seid Ihr Khiray?"

Der Fuchs nickte.

"Ich bin Golathar von den Stürmischen Wäldern. Wo um alles in der Welt hat sie sich diese Wunden zugezogen?"

"Das ist eine lange Geschichte. Wird sie wieder ganz gesund?" Er kniete sich vor ihr Bett und musterte Saljins schlafende Gestalt.

"Früher oder später... Ich habe alle Wunden gereinigt, aber diese ältere Verletzung an ihrem Oberkörper sieht aus, als würde sie ihr noch zu schaffen machen. Sie ist jung, sie ist stark, aber das Fieber hat sie sehr geschwächt, und sie braucht einige Wochen der Ruhe."

Khiray strich sanft über Saljins Ohren. "Die Wunde am Oberkörper ist genauso frisch wie alle anderen. Wie ich schon sagte, eine lange Geschichte."

"Sie sollte eigentlich nicht reisen, aber das Wetter entlang der Küste ist zu dieser Jahreszeit sehr milde, und wir erwarten keine Probleme. Am Goldenen Ufer ist sie besser aufgehoben als unter Zweibeinern." Der Arzt verzog mißbilligend die Schnauze. "Ich hoffe nur, sie hat dort Verwandte. Wenn ich es richtig verstanden habe, stammt sie aus dem Gebiet des Daymotal, nicht von der Küste. Jemand muß sich um sie kümmern, wenn wir angekommen sind; sie kann nicht weiter mit uns reisen."

Khiray nickte. "Ich werde sie begleiten."

Golathar schnaubte. "Ein Zweibeiner im Fuchstauren-Gebiet? Das ist selten. Wollt Ihr sie in ihre Heimat zurückbringen? Das ist eine Reise von tausend Kilometern! Es gibt dort keine bequemen Wagen, Fuchs, keine hübschen Flußschiffe und keine gepflasterten Straßen! In unserer Heimat trägt man seine Habe auf dem Rücken und jagt sich sein Essen selbst!"

Balashain stieß Golathar in die Seite, auffällig um Unauffälligkeit bemüht. Der Arzt sah sie tadelnd an, doch die Kapitänin nickte nur vieldeutig in Khirays Richtung. Golathar folgte ihrem Blick, schien endlich zu verstehen und plusterte sich auf, sagte jedoch nichts.

Es fiel Khiray schwer, Saljin zurückzulassen. Aber er hatte noch eine letzte Aufgabe vor sich. Drunfürst Kooradah mußte von Galbrens Verrat erfahren. Nun, da Galbren tot war, sollte diese Prozedur nicht allzu lange dauern. Khiray mußte ja nichts weiter tun, als vor einem Wahrheitsfinder seine Geschichte zu erzählen. Wenn die Flut kam und die Fuchstauren ausliefen, würde er wieder zurück sein.

Er nahm sich sogar die Zeit, sich gründlich zu waschen und seine Kleidung zu reinigen, die vom Flußwasser verdreckt war. Er konnte nicht wie ein schlammstinkender Bettler bei Hofe erscheinen. Nur die Schuhe ließen sich nicht schnell genug trocknen; das Leder war vollgesogen. Bedauernd verzichtete Khiray darauf, sie wieder anzulegen.

Den Seesack ließ er auf dem Schiff, Gold und Dekka'shin nahm er jedoch mit. Das Dekka'shin würde ihm helfen, seinen Bericht glaubwürdig zu untermalen - angesichts der unglaublichen Dinge, die er zu berichten hatte, war die nüchterne Bestätigung eines Wahrheitsfinders vielleicht nicht eindrucksvoll genug, um von der tatsächlichen Bedrohung durch Galbren und die Dämonen zu künden.

Im Grunde spielte es keine Rolle. Er brauchte niemanden zu überzeugen; die unbestechlichen Wahrheitsfinder ließen sich nicht täuschen.

Natürlich mußte Kooradah alles erfahren, schließlich galt es, einen Posten als Gouverneur neu zu besetzen; dann gab es noch Galbrens Soldaten, die irgendwo entlang des Flusses vergeblich auf neue Befehle warteten. Die 'Goldklumpen' mußte geborgen werden, sofern andere Kapitäne sich nicht schon des Schiffs angenommen hatten, und auch Galbrens anderes Schiff, die 'Laidanna', war verwaist. Das Wrack der 'Silbernen Ansicc' mußte geborgen werden. Und da war noch die Frage nach einer Belohnung... Große Hoffnungen machte sich Khiray nicht; Kooradahs Großzügigkeit gehörte nicht zu den Dingen, die man an dem Drunfürsten lobte und pries. Aber er schuldete es Delley, Kinnih und Fryyk, wenigstens den Versuch zu unternehmen. Fryyk konnte zu den Ottern zurückkehren, er hatte auf dieser Fahrt keinen Verlust erlitten. Aber Delley und Kinnih waren ohne Schiff und ohne Beschäftigung. Während er mit Saljin ging, würden sie hier im Armygan zurückbleiben.

Er ließ sich von Balashain die genaue Zeit der Abfahrt geben. Es blieben noch einige Stunden, genug für einen Bericht, wenn man ihn gleich zum Drunfürsten vorließ. Und das würde man; er war entschlossen, dafür zu sorgen.

Dann verließ er die Fuchstauren und seine Freunde und machte sich auf den Weg zum Palast des Drunfürsten, des Herrschers über den Armygan.

* * *

Der Palast lag auf einem Hügel, umgeben von weiträumigen Parks, Alleen und prachtvollen alten Villen. Von hier aus konnte man über einen Großteil der Stadt schauen. Das Gebäude selbst bestand aus einem nicht allzu harmonischen Durcheinander von Türmchen, Kuppeln, Säulen, Anbauten, Balkonen und Erkern. Was ursprünglich ein einfaches Viereck aus Mauern gewesen war, mit einem runden kuppelgekrönten Hauptbau in der Mitte und vier massiven Wohnbauten an den Ecken, war über die Jahrhunderte immer wieder erweitert und modifiziert worden. Türme im Innenhof, Anbauten an den Wohngebäuden, ganze neue Palasttrakte, mit den alten Teilen über straßenüberspannende Brücken verbunden, und großzügige, zu den Parks hin offene Stallungen gaben Zeugnis von der Phantasie der Drunfürsten. Was sie den Besitzern der umliegenden Ländereien verboten, nämlich die Bebauung zu verändern, das gestatteten sie sich selbst mit nonchalanter Großzügigkeit.

Kooradah, so hieß es, war dem Prunk keineswegs abgeneigt, doch hatte er seinen Namen noch nicht durch Veränderungen am Palast verewigt; man munkelte, er sei zu geizig dazu. Als Khiray das Bauwerk betrachtete, hatte er jedoch den Eindruck, als habe Geiz wenig damit zu tun: viel mehr goldene Verzierungen und marmorne Wasserspeier konnten die Dächer nicht zieren.

Das Eingangstor allein war ein Dutzend Meter hoch; die eigentlichen Türen waren darin eingelassen, da man für etwas so Triviales wie Leute, die den Palast betreten oder verlassen wollten, unmöglich jedesmal die gewaltigen Torflügel bewegen konnte.

Das Innere des Torbaus bestand aus einem einzigen großen Raum, an dessen Wänden kleine Wachstuben eingelassen waren. Gänge verzweigten sich vom Torhaus, Treppen führten in andere Stockwerke, und eine Vielzahl von Türen verbarg weitere Zugänge und Zimmer.

Ein buntgekleideter Dachs kam händereibend auf Khiray zu. "Was kann ich für Eure Exzellenz tun?"

Der Fuchs räusperte sich. Die übertriebene Kleidung des Dachses schien auf einen höheren Rang hinzuweisen, oder es war nur ein Diktat der Mode. Er entschloß sich, nicht wie ein Bittsteller aufzutreten. "Ich wünsche eine Audienz bei Drunfürst Kooradah."

Der Dachs kicherte. "Das läßt sich sicher machen." Er gab nicht zu verstehen, daß er bei einem entsprechenden Bestechungsgeld dienstbereiter würde; vielleicht erkannte er in Khirays wenig aufwendiger und eher zweckdienlicher Kleidung den Fuchs vom Lande. "Genügt es in einem halben Jahr, oder soll es etwas eher sein?"

Khiray runzelte die Stirn. "Jetzt."

Für einen Augenblick zuckte echte Überraschung über die Schnauze des Dachses, dann grinste er. "Jetzt? Ich glaube, das ist kaum möglich. Die Audienzen beim Drunfürsten müssen im Voraus angemeldet werden; der Drunfürst ist sehr beschäftigt."

Der Fuchs spielte mit einer Goldmünze. "Es handelt sich um eine ausgesprochen dringende Angelegenheit."

Der Dachs verfolgte die Wanderung der Münze über Khirays Finger, dann schien er zu entscheiden, daß solche geringen Summen die Mühe nicht wert waren. "Jeder, der mit dem Drunfürsten sprechen will, hat eine dringende Angelegenheit, sonst würde er es nicht wagen, mit dem Drunfürsten sprechen zu wollen. Der Drunfürst kann sehr ungehalten werden, wenn man seine Zeit mit Nichtigkeiten vergeudet, und sein Zorn hält lange an und reicht weit."

Khiray steckte die Münze wieder weg. "Ich denke, was ich zu berichten habe, wird den Drunfürsten sehr interessieren. Kann ich ihn jetzt sprechen, oder muß ich mich an jemanden wenden, der einen höheren Rang bekleidet als ein simpler Empfangsbeamter?"

Sein Gegenüber schnaubte. "Ich bin Empfangsbeamter Erster Klasse! Und es ist schon eine hohe Ehre, daß ich mich mit jemandem abgebe, der den Palast ohne Schuhe betritt!"

"Ich möchte den Drunfürsten sprechen. Jetzt. Bitte. Ohne weitere Umstände. Ich habe nicht viel Zeit."

Der Dachs drehte sich um. "Verschwinde, Fuchs. Der Drunfürst hat Besseres zu tun, als mit Herumtreibern und Strolchen zu sprechen."

Khiray richtete das Dekka'shin nach oben und konzentrierte sich.

Magie ist im Geist. Der Wille beherrscht den Zauber.

Das Licht flutete durch die ganze Halle. Feuerkugeln rasten über die Wände, hinterließen geschwärzte Pfade. Spiralige Leuchterscheinungen rotierten unter der Decke. Die Mauern des Torhauses erzitterten. Goldverzierungen sprangen aus ihren Halterungen und krachten zu Boden. Das Spektakel dauerte an, bis auch der letzte Lakai in der Halle sich in Sicherheit gebracht hatte. Allein Khiray stand noch im Zentrum des Raumes.

"Kann ich jetzt den Drunfürsten sprechen?" fragte er milde.

Der Dachs kroch aus seinem Versteck. "Sofort, sofort. Der Drunfürst wird Euch jeden Moment empfangen." Er winkte Khiray heran und geleitete ihn durch eine schlichte Tür in ein Labyrinth aus Gängen und Räumen, Vorzimmern und Behelfskorridoren. Der Fuchs hatte den Eindruck, als führte der Empfangsbeamte ihn absichtlich in die Irre, aber angesichts der Architektur des Palastes konnte dies auch täuschen... er war schließlich noch nie hier gewesen.

Schließlich überquerten sie eine Brücke, die direkt zum runden Bau in der Mitte des ursprünglichen Palastvierecks führte. Der Zentralbau, der die Gestalt eines gedrungenen Turmes hatte, besaß einen Durchmesser von dreißig Metern und war ebenso hoch. Die Kuppel aus vielfarbigem, verzierten Glas krönte den Turm mit weiteren fünfzehn Metern und milderte den Anschein strenger Schlichtheit, die den Zentralbau einst - vor zahllosen Um- und Anbauten - einmal ausgezeichnet hatte.

Eine massive Eichentür führte ins Innere des Turms, doch vor der Tür stand ein Wolf, gekleidet in einen ärmellosen, weiten offenen Mantel und sonst nichts, nicht einmal einen Lendenschurz. Der Mantel allein, der von dunkelblauer Farbe und mit mystischen Symbolen besäumt war, wies ihn als Zauberer aus. Die Tatsache, daß er weiter keine Kleidung trug, auch keine Schuhe, zeigte, daß er entweder von sehr niedrigem Rang war - oder von sehr hohem, in der Tat von solcher Bedeutung, daß er es nicht nötig hatte, seine Macht mit modischen Accessoires zu unterstreichen.

Er war mehr als nur gutaussehend, er war blendend - hochgewachsen, muskulös, anmutig, mit schimmerndem hellgrauen Fell. Seine Proportionen glichen einem Götterbildnis. Jeder Muskel fügte sich in ein harmonisches Ideal. Gleichzeitig war er fast fraulich schlank und außerordentlich gepflegt, als habe er jedes Haar seines Fells einzeln an seinen Platz gelegt.

Der Wolf sah Khiray lächelnd entgegen. Allein der unwillkürlich zuckende Schwanz, der aus dem zweigeteilten Mantelschoß ragte, verriet seine Erregung. "Giddamir, ich warte hier jetzt schon zehn Minuten. Ich dachte, wir wären uns darüber einig, daß du unsere Gäste nicht erst durch jeden Winkel des Palastes führst, ehe du sie hierher bringst. Wenn irgendeine Gefahr für unseren geliebten Drunfürsten besteht, so bin ich hier auf meinem Posten, ehe du das Torhaus verlassen hast."

Der Empfangsbeamte wand sich. "Erzmagier Dhaurakil, ich dachte..."

"Das ist das Problem, du dachtest. Dein Denken ist unglücklicherweise in den meisten Fällen nicht von Erfolg gekrönt. Nun geh, empfange ein paar andere Gäste."

Der Dachs drehte sich um und eilte davon. Der Erzmagier wandte sich Khiray zu und musterte ihn intensiv. Khiray stand unwillkürlich stramm, als müsse er dieser Untersuchung mit seiner ganzen Willenskraft begegnen.

Dhaurakil schien zu gefallen, was er sah; er bekam eine ansehnliche Erektion. Der Fuchs wich einen Schritt zurück, als bedrohte der Magier ihn mit einer Waffe. Dhaurakil schien seine Indiskretion nichts auszumachen. Vielleicht war er an den Ungehorsam gewisser Körperteile gewöhnt, vielleicht kümmerte es ihn auch nicht, was andere dachten. Er strahlte Macht aus - seine Figur mehr noch als sein Titel. Erzmagier. Der Meister aller Magier bei Hofe. Der mächtigste Magier Drun'kaals, wenn nicht des ganzen Armygan. "Ihr seid kein Magier, wie ich feststelle. Dennoch tragt Ihr eine magische Waffe."

"Ich muß mit Kooradah sprechen", murmelte Khiray.

"Ihr könnt mit ihm sprechen, sobald ich entscheide, daß Ihr keine Gefahr für den Drunfürsten seid."

"Ich bin nicht hier, um Kooradah etwas anzutun." Der Gedanke kam Khiray lächerlich vor - aber das Dekka'shin gab ihm in der Tat die Macht dazu. Er, der kleine Fuchs aus dem Norden, war für Kooradah eine Bedrohung geworden.

"Es sind schon andere harmlos aussehende Attentäter hier eingedrungen", stellte Dhaurakil nüchtern fest. "Dennoch, ich glaube Euch. Wäret Ihr dem Fürsten feindlich gesonnen, könntet Ihr ihn damit aus der Ferne angreifen, ohne hierher kommen zu müssen. Woher stammt diese Waffe?"

Khiray packte das Dekka'shin fester. "Von Taphaliel..."

"Einer der Erzengel, wenn ich mich nicht irre." Dhaurakil blickte über den Rand der Brücke, den Turm hinab. "Das ist ungewöhnlich. Ich nehme an, daß Eure Geschichte damit etwas zu tun hat."

"Ja."

"Ich möchte Euch bitten, mir diese Waffe zu überlassen. Dann könnt Ihr unseren geliebten Drunfürsten sofort sehen." Die Art, wie er zum zweitenmal schon "geliebter Drunfürst" sagte, ließ in Khiray einen gewissen Verdacht entstehen. Doch das ging ihn nichts an; das Privatleben von Erzmagiern und Drunfürsten interessierte ihn im Augenblick nicht.

"Nein! Ich habe dieses Dekka'shin heute schon einmal aus der Hand gegeben, und als Ergebnis mein Schiff verloren!"

"Die Explosion am Hafen. Ich verstehe. Ich nehme an, der Ausbruch magischer Energien vor einigen Tagen, der in der Nähe von Alvanere stattfand, hat auch etwas damit zu tun. Keine gewöhnlichen Kräfte erschüttern die Sphäre der Magie so sehr, wie ich es erleben mußte."

Khiray sah zu ihm auf. "Ja, meine Geschichte hängt damit zusammen. Versteht Ihr nun, daß es wichtig ist?"

Dhaurakil strich seinen Schwanz glatt. "Je unerklärlicher die Dinge sind, je größer die darin verwickelten Kräfte, desto mißtrauischer werde ich. Ich fürchte, ich muß darauf bestehen, dieses Dekka'shin für Euch aufzubewahren. Ihr erhaltet es zurück, sobald Ihr wieder geht."

"Unmöglich." Ein Erzmagier mit der Macht dieser Waffe? Vielleicht wollte Dhaurakil selbst den Platz des Drunfürsten einnehmen... nein, wohl nicht; der Erzmagier schien Kooradah wohlgesonnen (wenn das das passende Wort war). Aber Khiray verstand, daß das Geschenk des Erzengels ein zweischneidiges Schwert war. War Taphaliel über den Verbleib der Waffe informiert? Wußte er, zu welchem Zweck sein Zauber eingesetzt wurde? Konnte er die Verbindung zum Zentrum seiner Macht unterbrechen und das Dekka'shin damit zerstören?

Der Wolf seufzte. "Ich dachte, Ihr hättet es eilig." Das hatte Khiray nur zu Giddamir gesagt, aber der Erzmagier schien über alles informiert zu sein. "Wir können nun hier stehen und lange Zeit diskutieren. Oder Ihr könnt mich mit Eurer Waffe angreifen. Seid Ihr sicher, daß Ihr mich schlagen könnt?"

"Ich will mich mit niemandem schlagen." Khiray fühlte, daß das Gespräch eine sehr unerfreuliche Wende nahm. "Wenn Ihr mich nicht vorlassen wollt, gehe ich wieder." Er drehte sich um. Mochte Kooradah die Fäden selbst entwirren.

"Das, fürchte ich, kann ich nicht gestatten", meinte Dhaurakil beiläufig. "Ihr tragt eine mächtige Waffe, die ich nicht ignorieren kann. Ich muß gestehen, ich bin ungeheuer neugierig auf Eure Geschichte."

Khiray ballte die Fäuste. "Ich kann sie Euch erzählen, wenn Ihr Wert darauf legt, und Ihr erzählt sie Kooradah weiter."

Der Erzmagier lehnte sich gegen die Eichentür und strich mit der Rechten vorsichtig über sein aufgerichtetes Glied, wie um Khiray daran zu erinnern, wer hier die Macht besaß. "Das ist gegen das höfische Protokoll. Kooradah wäre sehr gekränkt, wenn man ihn in wichtigen Angelegenheiten übergeht. Und ich würde auch gerne einen Wahrheitsfinder zugegen wissen. Dieses Talent besitze ich nicht."

Der Fuchs sah ihn grimmig an. "Wir können es darauf ankommen lassen, wessen Macht größer ist, Taphaliels oder die Eure."

"Taphaliels, natürlich", erwiderte der Erzmagier. "Aber ich wandle näher dem Zentrum meiner Macht. Ihr ruft die Eure aus weiter Ferne. Ich kann Euch töten, ehe die Kräfte des Erzengels Euch durchfluten. Nicht, daß Ihr das als Drohung verstehen sollt, es ist nur... eine Feststellung von Tatsachen."

Sie vergeudeten ihre Zeit. Khiray schüttelte den Kopf. Er hatte nicht um dieses Geschenk gebeten. Mochte Dhaurakil es für eine Weile behalten; Taphaliel wußte sicher um die Gefährlichkeit seiner Waffe. Der Fuchs warf dem Wolf das Dekka'shin zu.

Der Erzmagier streichelte die silberne Oberfläche. "Es ist auf Euch eingestimmt. Ich kann seine Macht nicht erreichen! Ein erstaunlicher Zauber."

Khiray seufzte tief. Also wäre auch Kinnih gar nicht in der Lage gewesen, Taphaliels Zorn auf eventuelle Angreifer zu schleudern. Das machte den Verlust der 'Silbernen Ansicc' doppelt sinnlos.

Der Wolf öffnete ihm die Tür, und gemeinsam betraten sie den Innenraum des Zentralbaus. Ein einziger runder Saal erstreckte sich vor ihnen, der zehn Meter bis hinauf zur Kuppel reichte. In einigen Metern Höhe umlief ein schmaler Balkon den Saal, und die Mitte war als Podest erhöht. An drei Seiten befanden sich Treppen, die abwärts führten.

Es gab keine Fenster. Magisches weißes Licht erhellte den Saal, und zusätzlich fiel durch die Kuppel Sonnenlicht, gebrochen und in tausend Farben.

Wenn dies der Raum war, in dem Kooradah arbeitete, sah seine Arbeit sehr merkwürdig aus... eher wie ein Fest, ein betrunkenes Bacchanal, eine Orgie. Farbige, wehende Tücher verhüllten die Wände. Unmengen seidener Kissen lagen auf dem Boden. Tische voller Platten mit Fleisch und Obst standen herum. Mindestens fünfzig Fellige hielten sich hier auf, in verschiedenen Stadien der Betrunkenheit oder der Verzückung. Ein paar schliefen in den Kissen. Andere hatten es sich ebenfalls in den Kissen gemütlich gemacht, doch sie schliefen nicht, sondern frönten der Fleischeslust; Pärchen aller Rassen wälzten sich stöhnend und jauchzend über den Boden. Ein dicker Wolf füllte sich Eßwaren auf den Teller; ein wenig gesitteter Hirsch schüttete Wein in sich hinein.

Ein Kaninchen stritt sich mit einem Kater; sie waren beide nicht mehr nüchtern, und als ihr Disput in offenen Streit ausartete, schlug das Kaninchen sein Gegenüber bewußtlos und sackte dann selbst in die Kissen. Eine Füchsin umarmte eine marmorne Statue und versuchte vergebens, ihr Interesse zu wecken. Ein Dachs galoppierte auf allen vieren vorbei, auf dem Rücken ein Ottermädchen. Die Anwesenden waren spärlich bekleidet, wenn überhaupt, nur eine Gruppe aus vier Ratten mit enormem Körperumfang hielt sich in Kleidungsstücke gehüllt, als wollten sie den Mangel an Gewändern bei den anderen Felligen ganz allein wettmachen. Der Geruch nach vielen Rassen und vielen Arten der Unterhaltung hing in der Luft.

Es gab nur wenige Gestalten, die aus der orgiastischen Menge herausragten. Wächter - Wölfe, Leoparden, ein Bär - standen auf dem Balkon wie Statuen. Sie waren schwer bewaffnet und voll gerüstet.

Als Dhaurakil und Khiray eintraten, richteten sich zahlreiche Augenpaare auf sie, einige davon nicht mehr in der Lage, nur zwei Neuankömmlinge zu sehen. Mehrere weibliche Fellige beäugten die Lenden des Erzmagiers und leckten sich die Lippen. Die Füchsin mit der Statue gab ihr Bemühen auf und taumelte in Khirays Richtung, stolperte jedoch über die eigenen Pfoten und fiel in die Kissen.

Ein einsamer Tisch stand auf dem Podest in der Mitte, das sich wie eine Insel aus dem Meer der Zügellosigkeit erhob. Ein großer Leopard saß auf einem schlichten Stuhl dahinter und schrieb etwas auf ein Blatt Papier. Erst nachdem er diese Aufgabe erledigt hatte, sah er auf. "Ah, Dhaurakil! Ich sehe, du bringst mir einen Gast."

"Ich bedaure, Euch unterbrechen zu müssen", sagte der Erzmagier, "aber dies scheint eine Angelegenheit von einiger Wichtigkeit zu sein." Beider Stimmen übertönten den Lärm im Raum, obwohl der Wolf und der Leopard leise zu sprechen schienen.

Der Leopard erhob sich. Er war nackt bis auf einen goldenen Reif um seine Stirn. Auch er benötigte keine spezielle Kleidung, um seine Person zu unterstreichen: Kooradah. Er war noch größer, als Khiray geahnt hatte, größer als Dhaurakil, hochgewachsen wie ein Hirsch, doch massiger und kompakter gebaut. Kooradah war unzweifelhaft ein Mann, von einer dunklen und kraftvollen Männlichkeit, die sich in seinen Augen spiegelte.

Und er arbeitete tatsächlich inmitten der Orgie; unbeeinflußt, unbeeindruckt.

"Ruhe", sagte er, und die Wächter auf dem Balkon wiederholten brüllend seinen Befehl. Der Lärm erstarb bis auf ein gelegentliches Seufzen; die meisten Anwesenden ließen von ihrem augenblicklichen Treiben ab.

"Also, worum geht es?" Kooradah kam zu Khiray herüber und verschränkte die Arme.

Der Fuchs machte sich unwillkürlich etwas kleiner. "Drunfürst, es geht um Verrat, Dämonen und Magie."

"Einen Moment", unterbrach ihn der Erzmagier. "Ich habe nach einem Wahrheitsfinder gerufen." Davon hatte Khiray nichts bemerkt; der Zauberer hatte offenbar die Macht seines Geistes benutzt - oder wie ein Taschenspieler heimlich Giddamir ein Zeichen gegeben. Dhaurakil begutachtete einige Kissen und wählte die saubersten aus, um eine Sitzgelegenheit für vier Personen zu schaffen. Khiray nutzte die Gelegenheit, um sich in höflichen, wohlgewählten Worten Kooradah bekannt zu machen.

Nach kurzer Zeit erschien eine weibliche Katze, nicht sehr hübsch und nicht sehr groß, aber mit scharfen Augen. Sie war in den Mantel der Magier gehüllt und trug ein kurzes Wams mit mehreren Abzeichen, deren Bedeutung Khiray nicht verstand. "Ihr habt mich gerufen?"

Dhaurakil nickte. Er bedeutete ihr, sich hinzusetzen; sie alle nahmen Platz. "Dieser Fuchs hat eine Geschichte zu erzählen. Ich möchte, daß Ihr Eurer Profession nachgeht und mir sagt, ob er die Wahrheit spricht." Er wandte sich zu Khiray. "Dies ist Vijapaai; sie ist die beste Wahrheitsfinderin bei Hofe. Versucht nur, immer die Wahrheit zu sagen, um sie nicht zu irritieren; wenn Ihr etwas nicht enthüllen möchtet, so sagt es frei heraus. Wir werden Euch nicht dazu zwingen, etwas zu offenbaren, was Ihr nicht verraten wollt, wir können auch nicht in Eure Gedanken dringen. Ihr seid zu uns gekommen; tut uns die Ehre an und sprecht."

Khiray begann zu berichten, vom ersten Anlegen in Sookandil bis hin zum letzten Kampf mit Galbren. Es gab in der Tat einige Stellen, die er ausließ: die Details seiner ersten Begegnung mit Khezzarrik, seine Erfahrungen in der Hölle, seine Beziehung zu Saljin; nichts von alldem war für Kooradah von Bedeutung. Anderes mußte er enthüllen, obgleich er sich nicht wohl dabei fühlte, so etwa Pallys' Unsterblichkeit. Es dauerte länger, als er erwartet hatte, und er fühlte sich hinterher erschöpft, als habe er alles noch einmal erlebt.

"Das", sagte Kooradah mit hochgezogenen Augenbrauen, "ist eine wirklich erstaunliche Erzählung."

"Es erklärt manches." Dhaurakil nickte. "Der Ausbruch der Magie in Alvanere. Ein Erzengel... ich hätte nicht erwartet, daß zu meinen Lebzeiten einmal ein Erzengel den Armygan besucht. Wie schade, daß ich nicht dabeisein konnte."

Vijapaai schüttelte heftig den Kopf. "Erzmagier..."

"Gibt es einen Widerspruch?" Dhaurakil sah zur farbigen Glaskuppel auf. "Ich fand, es hörte sich alles sehr plausibel an."

"Überaus fantastisch", ergänzte der Drunfürst, "aber ich habe noch seltsamere Geschichten gehört."

Die Katze breitete die Arme aus. "Aber er lügt!"

Khirays Augen weiteten sich vor Überraschung. "Das ist nicht wahr!" In Gedanken ging er noch einmal durch, an welcher Stelle er so weit von der Wahrheit abgewichen sein mochte, daß ein Wahrheitsfinder ihn der Lüge bezichtigen konnte. Er fand nichts. Er hatte so wahrheitsgetreu wie möglich berichtet.

"An welcher Stelle lügt er?" Dhaurakils Miene verfinsterte sich.

Vijapaai kniff die Augen zusammen. "Ich bin mir nicht sicher, aber... es ist fast so, als lüge er dauernd. Mit jedem einzelnen Wort. Ich weiß, es ist nicht, was Ihr erwartet, aber... ich kann meinen Kräften und meiner Ausbildung vertrauen, und nichts, aber auch gar nichts in der Erzählung dieses Fuchses ist wahr!"

Khiray sprang auf. "Das ist unmöglich! Ich habe es selbst erlebt!"

"Er lügt noch immer", stellte die Katze fest.

"Die Dämonen..."

"Er lügt selbst jetzt. Es gibt keine Dämonen, wie es den Anschein hat."

Der Erzmagier betrachtete das Dekka'shin. "Das verstehe ich nicht. Khiray, Ihr wißt, daß ein Wahrheitsfinder unfehlbar ist. Vijapaai kann Wahrheit und Lüge auseinanderhalten, wie unsereins Rot und Weiß unterscheiden kann. Warum versucht Ihr, uns zu täuschen? Hat diese Waffe die Macht, den Geist eines Wahrheitsfinders zu verwirren? War das der Grund, weshalb Ihr sie mir nicht überlassen wolltet?"

"Nein!" rief Khiray.

"Ja!" gab Vijapaai zurück. "Er lügt noch immer! Es ist die Waffe!"

Betrübt neigte der Erzmagier den Kopf. "Khiray, das war ein sehr dummer Versuch. Ich verstehe nicht... Woher stammt dieses Dekka'shin, und was plant Ihr wirklich? Wozu diese Geschichte?"

Der Fuchs war sprachlos. Warum...? Er wußte doch, daß Wahrheitsfinder sich nicht irrten. Er hatte die Wahrheit gesagt. Es gab nur zwei Erklärungen: Vijapaai log bewußt, oder sie hatte ihre Fähigkeiten verloren. "Was ich sage, läßt sich beweisen!"

"Lüge."

"Mein Schiff liegt auf dem Grund des Flusses!"

"Wahrheit."

"Ich habe gegen Galbren gekämpft... es gibt Zeugen, eine Ratte, der Hafenmeister dieser Mole..."

"Wahrheit."

"Galbren ist ein Verräter, er..."

"Lüge!" Vijapaai sprang auf. "Warum versucht Ihr, mich in die Irre zu führen? Euer Plan ist gescheitert! Sagt endlich die Wahrheit und nichts als die Wahrheit!"

Kooradah hob die Hand. "Mäßigung, bitte. Ich muß gestehen, daß mich diese Angelegenheit selbst etwas aus der Fassung bringt. Aber ich sehe nicht ganz, weshalb Khiray diese Lügen verbreiten sollte. Und ich bin ein Kenner der Seele, glaubt mir... dieser Fuchs ist noch bestürzter, als wir es sind. Wenn nicht Vijapaai etwas anderes behaupten würde, so würde ich sagen, er spricht die Wahrheit."

Eine Stimme erhob sich vom Brückeneingang her. "Ich denke, in dieses Dunkel kann ich Licht bringen."

Langsam hob Khiray den Kopf. Begleitet von Giddamir, stand Galbren in der Tür, das wölfische Gesicht zu einem Grinsen verzogen.


Ende von Kapitel Sechsundzwanzig