Kapitel Dreiundzwanzig


Während der Reise von Bärenberg aus waren sie immer wieder verschiedenen Schiffen begegnet. Der Armygan südlich von Bärenberg hatte mit der Abgeschiedenheit des Otterpfads wenig zu tun. Je näher sie dem Nebenfluß kamen, der nach Larynedd hinabführte, um so häufiger sichteten sie große Dampfer, kleine Segler, Otterboote, Flußfischer, Wolfsfrachter oder Dachskähne. Auch die Zahl der Dörfer entlang der Strecke hatte beträchtlich zugenommen. Sie passierten die kleinen Siedlungen im Abstand von weniger als zwei Stunden.

Doch hier auf dem See von Alvanere war plötzlich alles anders. Alvanere war verrufen, gefürchtet. Niemand lebte in der Nähe der Ruinen; kaum ein Dorf befand sich am östlichen Ufer. Die nächste Siedlung lag achtzig Kilometer weit im Süden der zerstörten Stadt. Selbst die Schiffe machten einen Bogen um Alvanere und folgten dem westlichen Ufer, außer Sicht der 'Silbernen Ansicc'. Nur die Signalhörner waren gelegentlich zu hören.

Ringsum breitete sich Stille aus. Das Schweigen schien zuzunehmen, je näher sie dem unheimlichen Ort kamen. Khiray steuerte das Schiff so, daß das Ufer stets in Sichtweite blieb. Er kannte die Lage der Ruinen, aber er war noch nie dort gewesen. Auch Saswin hatte Alvanere vermieden.

Immerhin, es sollte dort Geister geben. Und nach allem, was Pallys berichtet hatte, war das wohl kein Gerücht. Geister waren Wirklichkeit. Khiray war noch nie mit solchen Schattenwesen in Berührung gekommen, aber er kannte die Geschichten aus zuverlässiger Quelle.

Sie erreichten Alvanere am Nachmittag. Es war nicht schwer, die Ruinen zu erkennen: ein riesiges Areal, schwarz und verbrannt, eine von der Zeit angenagte Landschaft aus Hügeln und Steinhaufen. Obgleich die Ereignisse schon vierhundert Jahre her waren, wuchs kein Baum auf den Ruinen; es war, als sei die Stadt gestern erst niedergebrannt worden.

Beim Näherkommen mußte Khiray zugeben, daß das nicht ganz richtig war: Wind und Wetter hatten die verbliebenen Steinmauern abgeschliffen, die Holzteile waren verwittert und verfallen, die Schutthaufen waren in sich zusammengesunken. Und es gab einige Pflanzen dort, die kühn genug waren, sich den freien Raum zu erobern: wilde Sträucher, dornige Büsche, Farne und Brennesseln. Doch vierhundert Jahre waren genug Zeit, um mächtige Bäume wachsen zu lassen, um ein unberührtes Gebiet für den Wald zurückzugewinnen. Welcher Einfluß auch immer die Pflanzen fernhielt, Khiray konnte ihn unter seinem Fell spüren.

Bedrohlich. Düster. Ein Klagen aus vergangenen Zeiten, ein Gemisch aus Stimmen, die nach Vergeltung riefen - oder nach Erlösung.

Alvanere bildete eine Halbinsel, eine Landzunge, die ihre aschegeschwärzten Massen weit in den See hineinschob. Khiray steuerte die 'Ansicc' ans nördliche Ufer, so gut es ging. Einst mochten Anlegestege hier auf Schiffe gewartet haben - die Reste waren unter Wasser noch zu erkennen -, doch jetzt gab es für ein Schiff von der Größe der 'Ansicc' keine Möglichkeit mehr, direkt festzumachen. Hinzu kam, daß die unterseeischen Ruinen schwer einsehbar waren. Der Fuchs wollte nicht riskieren, den Rumpf seines Schiffes zu beschädigen, indem er auf Mauerwerk auffuhr.

Er ließ Anker werfen, nachdem das Schiff in der Nähe des Punktes angelangt war, wo die Halbinsel mit dem restlichen Ufer verschmolz. Nördlich davon wuchs der Wald wieder, doch im Süden des Landeplatzes fiel das Auge nur auf Ruinen, die bis ins Hinterland reichten.

"Ein unheimlicher Ort", bemerkte Delley. Die Ratte hatte den Vormittag verschlafen, war aber jetzt wieder hellwach. Niemand aus der Besatzung konnte unter dem drückenden, belastenden Einfluß ruhen.

"Du warst noch nie hier?" fragte Kinnih.

Delley schüttelte den Kopf. "Das ist ein Ort, den man am besten vermeidet. Niemand, der noch alle seine Sinne beisammen hat, kommt hierher."

Kinnih, Delley und Sarmeen begannen damit, ein Beiboot fertigzumachen und zu Wasser zu lassen. Unterdessen half Perlish Khiray dabei, das Schiff zu sichern. "Sollte nicht jemand an Bord bleiben?" fragte der Hirsch.

Khiray machte eine verneinende Geste. "Nein, wir brauchen jede Hand, falls es zu einem Kampf kommt. Niemand wird hier versuchen, das Schiff zu stehlen."

"Die Dämonen könnten es versenken."

"Wenn Khezzarrik die Wahrheit gesagt hat, kommen sie von Süden an. Sie werden die 'Ansicc' gar nicht sehen." Er klopfte an seine Kabinentür. "Saljin?"

Die Fuchstaurin öffnete und trat heraus. Sie hatte farbige Bänder in den Schwanz und das lange Haar eingeflochten. Frisch gebadet und gebürstet, sah ihr Fell flauschig und weich aus, und das Rot, Blau und Grün des Stoffs ließ sie aussehen wie jemanden, der zu einem Frühlingsfest aufbrach. Allerdings ließen die Gürtel mit Messern und kurzen Stäben sowie das Dekka'shin mit seiner Doppelklinge und dem runengeschnitzten Stab als Griff keinen Zweifel daran, daß sie kein Fest erwartete.

"Woo!" machte Perlish. "Wenn schon sterben, dann aber schön, wie?"

"Niemand wird hier sterben!" zischte Khiray ihn an. "Wir haben bis jetzt noch nicht einmal Dämonen gesehen!"

Der Hirsch winkte ab. "Schon gut. Ich bin nur etwas nervös."

"Das sind wir alle", stellte Saljin fest, doch sie war die einzige, die nicht nervös aussah. Sie trabte den beiden voran zu Pallys' Kabine, doch das Kaninchen hatte sich schon bereitgemacht und saß im Beiboot.

Eine Fahrt genügte, um sie alle samt den Stäben überzusetzen. Das Beiboot berührte den versengten Boden, und sofort nahm das drückende Gefühl zu.

"Geister", sagte Pallys. "Sie warten. Sie spüren, daß wir kommen."

"Was willst du tun?" fragte Khiray und half Perlish, das Beiboot an Land zu ziehen und an einem Steinblock zu vertäuen.

Das Kaninchen wies ins Innere des Schuttgebirges. "Irgendwo dort liegt ein freier Platz. Das dürfte am vorteilhaftesten sein."

Sie folgten ihm über das Gelände. Aufragende Mauern versperrten die gerade Sicht über die Ruinen. Der Schutt machte das Vorankommen schwer; immer wieder mußten sie klettern, und ab und zu gab etwas nach, Stein, Staub und Asche sanken in sich zusammen und enthüllten ein tiefes Loch zu ihren Füßen. Manchmal waren die ehemaligen Straßen als Täler in den Ruinen zu erkennen. Von hölzernen Fenstern und Türen war keine Spur geblieben, und alles, was höher als zwei Stockwerke war, war von der Zeit zermahlen worden und füllte nun Gräben auf.

Da niemand jemals wieder hierhergekommen war - außer vielleicht Abenteurern, die die Geschichten von Geistern angelockt hatten -, waren alle Steine, alle Ziegel, alles Material, aus dem die Stadt bestanden hatte, noch da, wenn auch abgeschliffen und geborsten, niedergerissen und verwüstet. Andere Städte, die aus irgendeinem Grund verlassen worden waren, wurden nach einiger Zeit von neuen Siedlern geplündert. Baumaterial war zu wertvoll, als daß man es hätte herumliegen lassen.

Der bloße Anblick von Ruinen war im Armygan etwas Ungewohntes. Man vergeudete nichts. Doch hier war nichts entfernt worden; einstmals hohe Türme waren eingefallen und zu Kegeln aus Ziegelbrocken geworden, Scherben von großen Fenstern zierten glitzernd Haufen aus Kitt und zusammengebackener Asche.

Es war schwer vorstellbar, daß hier einst Fellige gelebt haben sollten. Heitere Stimmen in den Straßen, feilschende Käufer auf den Märkten, spielende Kinder auf den Höfen.

Eine Bewegung am Rande seines Blickfelds zog Khirays Aufmerksamkeit auf sich, doch als er genauer hinsah, konnte er nichts entdecken. Dämonen? Waren sie schon hier, hatten sie einen Hinterhalt gelegt? Er warnte die anderen. Angespannt schlichen sie weiter, aber nichts geschah. Wenn es Dämonen waren, so benahmen sie sich sehr vorsichtig.

"Dort." Pallys deutete auf eine weite, ebene Fläche. Der Schutt bedeckte nur den Rand des ehemaligen Platzes; dreihundert Meter oder mehr betrug der Durchmesser des freien Geländes, mit einem zerstörten Bauwerk in der Mitte. Die Asche hatte sich in den Stein gefressen, mit dem der Platz gepflastert gewesen war, aber man konnte noch ahnen, daß große farbige Kacheln den ganzen Ort verziert hatten. Das Gebäude in der Mitte war quadratisch mit einer Seitenlänge von etwa fünfzig Metern. Säulenreste zierten die Front, in der der Eingang als unregelmäßiges Loch gähnte. Mehr konnte man nicht sagen, denn das Bauwerk hatte kein Dach mehr; oberhalb von fünf oder sechs Metern war alles in sich zusammengebrochen.

"Ist das das Haus, in dem du gelebt hast?" wollte Perlish wissen.

Das Kaninchen warf ihm einen strafenden Blick zu. "Wenn du schon lauschst, solltest du besser zuhören. Ich wohnte am Stadtrand. Das hier ist der Tempel von Alvanere, eine heilige Stätte."

Begleitet nur von Khiray, betrat Pallys den Tempel. Die Reste des Daches hatten den Boden verschüttet, doch seltsamerweise war ein Gang freigeblieben, der bis zum Zentrum des Gebäudes reichte. Es gab nur einen Innenraum, der von Säulen umringt war, und im Mittelpunkt stand auf einer erhöhten Plattform ein Altar.

Pallys ließ sich vor dem Altar nieder. "Es wird einige Stunden dauern, um die Kräfte zu rufen und zu sammeln. Falls die Dämonen uns entdeckt haben sollten, weißt du, was zu tun ist."

Khiray schüttelte sich unbehaglich. "Stunden? Ich würde ungern hier sein, wenn die Nacht hereinbricht."

"Es ist keine einfache Magie, und ich bin kein Magier. Was erwartest du?"

Der Fuchs legte die Ohren an. "Ich hoffe, die Geister haben nichts gegen uns."

"Sie werden hierher kommen." Pallys sah sich um. "Sie werden euch nicht belästigen. Sobald der Ruf erklingt, werden sie ihm folgen."

"Und der Erzengel...?" Khiray versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, wenn ein Erzengel zur Erde herabstieg. Er hatte in den letzten Tagen mehr gesehen, als ihm lieb war. Würde dies eine neue Ebene des Schreckens sein, ein Bild unvorstellbarer Macht? Oder blieben die Gewalten für sterbliche Augen unsichtbar?

"Er wird kommen." Das Kaninchen verschränkte Arme und Beine und lehnte sich gegen den Altar, die Augen geschlossen.

Khiray nickte und wandte sich ab. Es gab noch viel zu tun.

Ehe er den halben Raum durchquert hatte, erklang Pallys' Stimme noch einmal. "Khiray?"

Der Fuchs drehte sich um. "Ja?"

Pallys öffnete die Schnauze, als wollte er etwas sagen, hielt jedoch dann inne. "Nichts", brachte er schließlich hervor. "Geh nur."

Khiray verließ den Tempel mit einem unangenehmen Gefühl - wie ein Jucken im Schulterfell, das sich durch noch so intensives Kratzen nicht vertreiben ließ.

* * *

Sie waren nur zu siebt - Khiray, Saljin, Delley, Kinnih, Sarmeen, Fryyk und Perlish. Von ihnen allen hatten nur Saljin, Delley und Perlish nennenswerte Kampferfahrung. Sarmeen, Khiray und Kinnih waren zwar im Umgang mit Waffen geübt, aber Sarmeen war der Sohn eines Gouverneurs und damit eher an das Fechten von Duellen gewöhnt, Khiray kämpfte mit einer ungewohnten Waffe, und Kinnih war zu jung, um viel Routine beim Kämpfen aufbringen zu können. Fryyk schließlich war als Otter Angehöriger einer friedfertigen Rasse; Otter kämpften selten, und wenn, so nutzten sie meist ihr angestammtes Medium, das Wasser.

Wenn sie die Tempelruine einigermaßen sicher verteidigen wollten, mußten sie einen Kreis darum bilden. Die Dämonen konnten von jeder Seite her zuschlagen. Khiray teilte sie so ein, daß jeweils ein erfahrener Kämpfer und ein weniger kampfstarker Felliger sich abwechselten: er selbst, dann Perlish, Fryyk, Delley, Kinnih, Sarmeen, schließlich Saljin. Er hatte kaum eine andere Wahl bei der Aufstellung: er hielt es für gut, wenn Kinnih bei seinem Lehrmeister blieb und Fryyk von zwei routinierten Kriegern flankiert wurde. An einer Stelle mußten zwei der Unerfahrenen nebeneinander Posten beziehen, und Khiray hatte eher Vertrauen in Sarmeens Fähigkeiten als in seine eigenen. Immerhin stand Saljin jetzt zwischen ihnen, so daß er sich einigermaßen sicher fühlte.

Sie schafften die Stäbe aus dem Beiboot herbei und bereiteten sich auf ihre Aufgabe vor. Fünfzig Stäbe, davon fünfzehn längere, vierzehn kürzere und einundzwanzig mittlere. Die mittleren teilte Khiray an seine Mannschaft aus. Dazu gab er jedem einen längeren Stab, mit Ausnahme von Saljin und sich selbst - ihre Stäbe waren bereits in den Dekka'shin verarbeitet. Die kürzeren Stäbe plazierten sie in zwei Kreisen um den Tempel herum: einen weiten Kreis, ganz am Rande des Schuttfeldes, und einen etwas engeren, doch noch gute zehn Meter von ihren Positionen entfernt. Die drei ineinander geschachtelten Siebenecke, die die halb vergrabenen, aufrechten Stäbe und sie selbst bildeten, waren jeweils ein Stück gegeneinander gedreht.

Sie hatten Zeit genug gehabt, ein wenig mit den Stäben zu experimentieren. Ghanzekks Waffen ließen sich auch aus einiger Entfernung auslösen, wenn man in die richtige Richtung gestikulierte. Zudem brauchte man nicht zu zielen; die Magie suchte sich das nächstbeste Opfer selbst. So viel hatten sie aus den Aufzeichnungen des Leoparden-Magiers erfahren; natürlich hatten sie keine Dämonen zur Verfügung, um diesen Effekt zu testen.

Leider bestand Ghanzekks Journal nur aus losen Seiten, die eher zufällig in den Büchern lagen, die sie aus seinem Haus mitgebracht hatten. Über die Affinität der Stäbe zu Trollstahl stand nichts darin. Auch verrieten sie nichts darüber, wie stark die Magie abnahm, wenn der Dämon nicht direkt neben dem Stab stand. Mit nur sieben Positionen waren die Verteidigungskreise eher schlecht bestückt.

Blieben noch acht lange Stäbe. Mit diesen begann Khiray, eine magische Barriere zu ziehen - außerhalb ihrer Standorte, aber innerhalb des inneren Stab-Siebenecks. Die Idee war, die Dämonen herankommen zu lassen, sie an der Barriere aufzuhalten, und dann mit Hilfe der kurzen Stäbe in ihrem Rücken zu vernichten.

Wie viele Dämonen ließen sich mit einem Stab auslöschen? Pallys hatte den seinen verausgabt, als er Hhrugha getötet hatte. War Hhrugha ein gewöhnlicher Dämon, ein mächtiger Höllenbewohner oder gar ein Fürst der Hölle gewesen? Mit etwas Pech ersteres. Pallys hatte seinen Stab zwar lange besessen, aber nie einsetzen müssen, außer um die Bären-Dämonen in Sookandil aufzuhalten.

Damit ergab sich, daß ein kleiner Stab im schlechtesten Falle einen einzigen Dämonen vernichten würde. Die Bären hatten sich durch Barrieren nicht lange aufhalten lassen. Sie gehörten wahrscheinlich zu den Mächtigen. Genügte ein mittlerer Stab für sie?

Verdammnis! Vielleicht kam auf einen Stab am Ende wirklich nur ein Dämon. Dann durfte Beladanar höchstens fünfunddreißig Dämonen ins Feld führen, ehe die kleinen und mittleren Stäbe verbraucht waren. Und Beladanar war gegen die Stäbe vermutlich so immun wie Khezzarrik.

Nun, gänzlich immun war Khezzarrik nicht gewesen...

Das grüne Feuer schien in den Boden zu sickern, während Khiray den Kreis abschritt. Fahles Leuchten markierte seinen bisherigen Weg. Nur gelegentlich züngelten Flämmchen daraus empor. Die Barriere, die der Stab erzeugen sollte, blieb unsichtbar. Der Fuchs blickte stirnrunzelnd zurück. Sein Schwanz zuckte nervös. Das Unheil dieses Ortes mochte sich auf Ghanzekks Magie auswirken...

Da! Da war es wieder, ein Huschen, das er nur aus dem Augenwinkel sehen konnte. Als er genauer hinsah, war es bereits wieder verschwunden. Sein Fell sträubte sich und ließ sich durch vernünftige, rationale Gedanken nicht wieder glätten. Geister. Es waren Geister.

Als Khiray zum Tempel hinüberblickte, bemerkte er etwas Seltsames. Der ganze Platz war zuvor in Grau und Schwarz getaucht gewesen, ein Zeichen der Jahrhunderte ebenso wie der Verwüstung. Nun aber schien im Umkreis der Ruine die Farbe der Kacheln durch den Schmutz hindurchzuschimmern. Ein Muster wurde erkennbar. Je näher am Tempel sich die Fliesen befanden, um so heller war die Farbe, um so deutlicher konnte man die einstige Pracht ahnen.

Aber auch weiter weg vom unmittelbaren Einfluß des Tempels wirkte Magie. Feine Adern aus goldenem Licht, geästelten Blitzen nicht unähnlich, zogen sich durch den Staub. Noch waren es wenige, weit voneinander entfernt und schwach, doch noch während Khiray hinsah, wurden es mehr.

"Was geschieht hier?" fragte Kinnih beunruhigt. Die sieben Kämpfer scharten sich eng zusammen, als trauten sie dem Zauber noch weniger als den Dämonen, die hier auftauchen mochten.

"Pallys ruft die Kraft dieses Ortes zu sich", stellte Khiray fest. "Ich hoffe, die Geister stören sich nicht an uns." Er vollendete den Kreis und rammte den letzten langen Stab in die Fuge zwischen zwei Fliesen.

"Und ich hoffe, die Geister fallen nicht über uns her", brummelte Perlish.

"Ich kenne nur wenige Geschichten über bösartige Geister", stellte Delley fest.

"Wir sollten auf unsere Positionen gehen", entschied Khiray. "Die Dämonen sich das einzige, was wir wirklich fürchten müssen, und die können jeden Moment hier ankommen. Keine Gespräche mehr, nur noch Warnungen, wenn einer von euch etwas sieht."

Das Warten in der Stille war das Schlimmste. Die Sonne sank, und dichte Wolken zogen auf, die die Sterne verdeckten. Sie lauschten in die anbrechende Nacht hinein, aber außer dem fernen Glucksen des Sees - selbst mit ihren empfindlichen Ohren kaum zu hören - und dem Rauschen des Windes erklang kein Laut. So wie die Pflanzen sich auf wenige zähe Gewächse beschränkten, blieben offenbar auch die meisten Tiere diesem Ort fern, wenn nicht alle.

Während der Himmel tintenschwarz wurde, blieb es doch im Umkreis des Tempels einigermaßen hell. Die dünnen Energielinien spendeten genug Licht, um sehen zu können. Das grüne Feuer der Barrieren war noch immer kaum wahrnehmbar, aber in der Dämmerung konnte Khiray den Kreis der acht Stäbe immerhin ausmachen.

Er versuchte, nicht nachzudenken. Wenn er sich zu sehr auf die Dämonen konzentrierte, würden nur die Bilder zurückkehren...

...eine Nacht in der Hölle...

...und das wollte er nicht riskieren. Sie brauchten jedes Fell. Die Dinge würden eben geschehen, wie Saljin gemeint hatte, und es hatte keinen Wert, sich im Voraus den Kopf zu zerbrechen. Es mochte sein, daß die Dämonen gar nicht kamen. Woher sollten sie auch wissen, daß es Fellige gab, die den Widerstand gegen sie wagten? Beladanar war wohl schon gen Drun'kaal gezogen. Oder Pallys hatte ihn falsch eingeschätzt, und der Dämonenfürst hielt sich verborgen, um in aller Ruhe abzuwarten.

Konnte ein Erzengel Beladanar finden, wenn dies so war? Wenn der Dämon sich irgendwo vergraben hatte, unsichtbar für aller Augen, und in einem magischen Schlaf ein Jahrhundert verdämmerte, ohne seine höllischen Zauber zu wirken? Und was war, wenn der Erzengel keine Spur mehr von den Dämonen fand? Zum ersten Mal kam Khiray der Gedanke, daß dieses mächtige Wesen nicht nur ihr Verbündeter sein konnte - daß sie seinen Zorn spüren mochten, wenn es sich zu Unrecht gerufen fühlte.

Ein Aufschrei riß den Fuchs aus seinen Gedanken. "Khiray! Geister!" Es war Kinnih.

"Bleib auf deiner Position!" brüllte Khiray zurück. "Geh ihnen aus dem Weg, aber tue gar nichts, außer sie greifen dich an!" Gegen die Geister hatten sie kein Schutzmittel. Aber Khiray erwartete auch nicht, daß sie die kleine Gruppe attackieren würden. Sie kamen, gelockt von Pallys' Ruf, der nun schon Stunden andauerte.

Es mochte jeden Moment vorbei sein. Der Erzengel konnte jeden Augenblick kommen.

Aber die Energielinien verdickten sich noch immer, ihr Netz wurde immer enger, und ein immer größerer Bereich des Platzes wurde von der Asche befreit, glühte farbig auf, leuchtete in eine schattenlose Nacht hinein.

Asche - die Asche der Toten. Der Toten, deren Macht Pallys zu sich befahl. Unter der Kraft des Rufes löste sie sich, gab ihre Bindung an den Ort des Todes auf und setzte den alten, schwelenden Zorn frei - die Verzweiflung, das Sterben, die dumpf brodelnden Gewalten des Untergangs. Khiray fühlte kalte Schauer seinen Rücken hinablaufen, bis hinab in die Schwanzspitze. Das war eine ghoulische Magie, ein Zauber, der die Totenkräfte beschwor. Mächtig mochte sie sein, doch welcher Zauberer würde sich freiwillig dieses Schreckens bedienen?

Andererseits, es gab durchaus skrupellose Zauberer. Und wenn solche Mächte diesen Magiern Kraft verschafften, so würden sie sich sicher ihrer bedienen. Es war eigentlich schon etwas verwunderlich, daß nicht mehr Zauberer ihre Orte der Macht ausplünderten; nicht, um Erzengel zu rufen, sondern um sich selbst zu stärken. Was hielt sie davon ab?

Nun sah Khiray auch auf dieser Seite einen Geist. Zuerst war es nur ein fahles Licht, das langsam näherrückte, doch als es den Schuttberg verließ und auf das freie Gelände glitt, nahm es Gestalt an. Immer deutlicher wurde der Schemen, und als er Khiray passierte, konnte der Fuchs zweifelsfrei erkennen, daß dies der Geist eines weiblichen Kaninchens war. Sie trug die Illusion der Kleidung, die sie wahrscheinlich am Tage ihres Todes getragen hatte. Ihre Augen waren auf den Tempel gerichtet; sie sah Khiray nicht an. Zwar bewegte sie die Pfoten beim Vorwärtsgleiten, doch diese Bewegung stimmte nicht mit der Geschwindigkeit überein, mit der sie vorankam, und die Pfoten drangen bei jedem Schritt durch den Boden.

Khiray wagte es, dem Gespenst nachzusehen. Es glitt in den Tempel hinein, durch die Mauer. Weitere Geister kamen von allen Seiten. Einige schienen nicht so sehr von Pallys' Bann beeinflußt zu sein, sie sahen sich um, als suchten sie etwas. Jemanden, den sie kannten? Die Stadt, die ihnen vertraut war? Einen Feind?

Ja, da waren auch Pharrak darunter. Auch sie folgten dem Zauber, Seite an Seite mit ihren Opfern und Feinden. Die Echsenwesen schlugen mit den Schwänzen und ließen die Köpfe pendeln, einige von ihnen blicklos, andere aufmerksam und mißtrauisch.

Khiray ließ seinen Blick über die Schuttberge schweifen. Da waren mehr, viel mehr noch von diesen Geistern. Hatten sie all die Jahrhunderte hier ausgeharrt, ohne eine Möglichkeit, Frieden zu finden? Waren alle Bewohner und Belagerer der Stadt zu Geistern geworden, oder nur ein Teil? Die Halden wimmelten von ihnen, und aus dem toten Gebein der Stadt sprossen mit jeder Sekunde mehr.

Eine junge Füchsin machte vor Khiray Halt. Sie sah seiner Mutter ähnlich - aber Ayashlee war an einem ganz anderen Ort gestorben, und der Fuchs hoffte inbrünstig, daß sie nicht gezwungen war, als Geist über die Erde zu wandeln. Die fremde Füchsin trug auch ein anderes Gewand, ein Kleid von sehr altem Schnitt mit vielen Bändern und Kordeln. So etwas mochte man früher einmal in der Stadt getragen haben, aber nicht auf dem Fluß - es sah zu unpraktisch aus.

Sie streckte eine Hand nach Khirays Gesicht aus. Sah sie in ihm ihren Sohn, ihren Mann, einen anderen verstorbenen Verwandten? Die Hand drang durch Khirays Wange, ohne daß er etwas spürte, nicht einmal den kalten Hauch, den er erwartet hatte. Die Füchsin starrte auf ihre Pfote, dann wandte sie sich ab und ging zum Tempel.

Khiray hoffte, daß ihre Seele in Pallys' Ritual endlich befreit werden möge.

Ein Soldat ging vorbei, in einer Uniform archaischen Zuschnitts. Drei Pharrak folgten ihm. Keiner von ihnen würdigte Khiray eines Blickes.

Der Platz war nun voll von Geistern. Manche bewegten sich entlang der leuchtenden, goldenen Linien, andere marschierten stracks auf den Tempel zu. Kaufleute, Arbeiter, Kinder, Greise. Der Untergang hatte niemanden verschont, niemanden bevorzugt. Vor dem Tod waren alle gleich.

Die Luft schien vor Spannung zu knistern. Wo die Geister die Dämonen-Barrieren passierten, sprühten Funken auf, doch die Kräfte schienen sich ansonsten nicht zu beeinflussen. Weder hielten die Barrieren die Geister auf, noch brachten diese die magischen Sperren zum Verschwinden.

Khiray beäugte mißtrauisch die Schutthügel. Zwischen all den Geistern mochten sich Dämonen verbergen, um sich anzuschleichen. Aber die Geister waren durchsichtig und licht, während die Dämonen gewöhnliche Felligen-Körper trugen.

Hoffentlich.

Ein eigentümliches Singen durchzog die Nacht. Es kam vom Tempel, doch es war nicht Pallys' Stimme. Klagend, doch mit einem Unterton der Freude. Als sei eine lange Zeit des Leidens vorüber, als sei die Zeit für den Abschied gekommen. Sangen die Geister? Hier draußen war kein Laut von ihnen zu vernehmen.

Khiray entschloß sich, seinen Posten kurz zu verlassen, um nach dem Kaninchen zu sehen. Er winkte Saljin und Perlish zu, bedeutete ihnen, seinen Abschnitt mit zu überwachen. Dann eilte er den Geistern nach.

Über dem Tempel strahlte Licht. Es kam aus dem Inneren, ein Glanz, der bis zu den Wolken aufzusteigen schien. Vorsichtig beschirmte er seine Augen mit der Hand, ehe er ins Innere sah.

Die Geister tanzten. Sie kreisten um den Altar, in einer weiten Spirale. Diejenigen, die von draußen kamen - die durch die Wände schwebten - reihten sich ganz außen ein, kreisten mit den anderen, rückten dabei langsam näher an die Mitte. Je weiter sie gelangten, um so undeutlicher wurden sie - sie zogen sich zusammen, verloren ihre Gestalt; das Leuchten, das in ihnen war, schrumpfte zu einem kleinen Ball, einem hellen Miniaturstern.

Und die Sterne wurden schneller und schneller, je dichter sie dem Zentrum waren, bis im innersten Kreis kaum mehr eine Kugel zu sehen war, sondern nur mehr ein Streif, nein, eine Scheibe aus Licht, die aus Hunderten von tanzenden Seelen bestand.

Pallys stand im Mittelpunkt des Tanzes. Das Licht, das den Toten entsprang, schien in ihm zu verschwinden und ihn selbst zum Leuchten zu bringen. Die Geister waren in ihm. Und die Lichtgestalt, zu der er wurde, hatte wenig gemein mit dem Kaninchen von einst - es war nicht einmal mehr ein Kaninchen, sondern ein Wesen aller Rassen - Leopard, Dachs, Katze, Otter, Ratte, Fuchs, Wolf, Hirsch, Kaninchen, Bär, sogar Pharrak. Er war männlich und weiblich, jung und alt, verkörperte alles Leben, das es in Alvanere gegeben hatte.

Und es gab Macht an diesem Platz. Khiray war kein Magier, und er glaubte nicht an irgendein magisches Talent in sich, aber das Innere des Tempels war so angefüllt mit Energie, daß selbst er es spüren konnte - dick wie Sirup. Die Macht tropfte förmlich von den alten Säulen, strahlte in den Himmel, strömte in zähen Flüssen durch das Bauwerk.

Der Gesang, den der Fuchs gehört hatte, entsprang Pallys' Schnauze, oder besser der Schnauze des Wesens, in das Pallys sich verwandelte. Tausend Seelen sangen, sangen das Totenlied einer Stadt, die vor vierhundert Jahren untergegangen war; tausend Geister, denen endlich wieder eine Stimme verliehen worden war - oder tausend Stimmen, denn so hörte es sich an: ein Chor der Trauer, ein Chor der Freude.

Khiray wandte sich um und kehrte zu seinem Platz zurück. Da war keine Asche mehr unter seinen Pfoten - der ganze Platz bis hin zu den Schuttbergen leuchtete in bunten Farben. Das Mosaik der Kacheln zeichnete nun ein Bild, untermalt und beleuchtet von hunderttausend goldenen Adern, die nicht länger nur den Platz bedeckten, sondern auch die Halden dahinter.

Und dort, wo die Mauerreste und Ziegel der einstigen Stadt lagen, erhob sich das Bild von Alvanere, der letzte der Geister, der Geist der Stadt selbst - wie ein lebendes Wesen, getaucht in matten Glanz; Häuser, Paläste, Hütten; Spitzbögen, Gewölbe, Wasserspeier; Brücken, Straßen, Säulen, Tore. Hochauf ragten die Türme der Geisterstadt, aus dem Schutt heraus, in die Nacht hinein, gerufen durch Magie, aufgestört aus unruhigem Traum.

Alvanere waberte und wogte, unschlüssig, wie eine Luftspiegelung an sehr heißen Tagen. Die letzten Geister kamen von den Hügeln herab und glitten über die Ebene, eilig, als fürchteten sie, etwas zu verpassen. Die Stadt streckte sich, verlor ihre Form, schien nach den dahinhuschenden Gespenstern zu greifen. Dann wandelte sie sich erneut, folgte den Spuren ihrer Bewohner: die fernen Häuser verschwanden zuerst, wurden zu leuchtenden Streifen, die sich dem Tanz der Geister im Tempel zugesellten, dann die näheren, schließlich die ganze Innenstadt, die den Platz umgab. Khiray konnte nur ahnen, was geschah; von seinem Posten aus war die Sicht nicht gut genug. Doch er verstand.

Als letztes verschwand der Geist des Tempels selbst - wurde eins mit dem Licht in seiner Ruine. Das Wispern der Stadt mischte sich in den Gesang, und das Leben, das seine Bewohner Alvanere verliehen hatten, verschmolz mit dem vergangenen Leben in seinem Inneren.

Doch es gab noch Bewegung. Etwas kroch zwischen den Schutthalden umher. Die Barrieren zischten und flammten auf. Grünes Feuer loderte aus den acht langen Stäben.

Die Dämonen waren gekommen.

* * *

Sie schienen schnell zu begreifen, daß sie gesehen worden waren, und daß die sieben Kämpfer auf ihre Ankunft vorbereitet waren. Jedenfalls gaben sie ihre Versuche des Dahinschleichens auf und hüpften, kletterten und marschierten in aller Offenheit über die Ruinen. Beladanar kam als erster. Er war in seine Men'schin-Maske gehüllt, nicht in seinen Wurmkörper (wenn sich unter der Haut nicht noch Würmer verbargen). Auch die anderen Dämonen sahen aus wie normale Wesen - Fellige in ihrem Falle, Söldner, Abenteurer, Bewaffnete. Bären waren nicht darunter, die Mehrzahl waren Ratten und Katzen, aber Wölfe und Füchse gab es auch. Keine Kaninchen oder Hirsche, keine Otter oder Dachse. Diese Rassen waren Beladanar bei seiner Auswahl der Körper für die Dämonen wohl nicht kampfstark genug erschienen.

Wie gelangten die Dämonen an ihre Körper? Hatte es wirklich einmal einen Alfon Sanass gegeben, dessen sich Beladanar bemächtigt hatte - waren all diese Gestalten einmal Fellige gewesen? Oder erschufen sich die Dämonen Gestalten ganz nach ihrem Willen? Khezzarrik hatte es getan.

Der Herr der Würmer überquerte gemessenen Schrittes den Platz und blieb vor der Barriere stehen. Khiray kam ihm entgegen. Der Fuchs war sich nicht sicher, ob Beladanar die Stäbe gesehen hatte, die die äußersten beiden Siebenecke bildeten, und sie ignorierte, oder ob er die Falle noch nicht ahnte. Aber er wollte den Augenblick der Wahrheit so weit wie möglich hinauszögern, den Kampf so spät es ging beginnen.

Der Erzengel mußte bald kommen. Die Geister waren im Tempel. Was mehr gab es zu tun? Wieviel Macht steckte im Boden, die durch die goldenen Adern zu Pallys geleitet wurde?

Wann war es genug?

Wußte Beladanar, was Pallys tat? Er schien keine Eile zu haben. Entweder er wußte gar nichts. Oder er sah, daß der Zauber noch seine Zeit brauchen würde. Oder er spielte ein trickreiches Spiel und suchte sie zu täuschen. Oder - und das war der schlimmste Gedanke von allen - er fürchtete den Erzengel nicht.

Khiray ignorierte den Knoten in seinen Eingeweiden. Er stand wieder einmal einem Dämon gegenüber. Er würde seinen ganzen Verstand und seine ganze Kraft brauchen.

"Guten Abend, Azzhuzzim Beladanar, Herr der Würmer, Fürst der Hölle", grüßte er.

Alfon Sanass lächelte, ein typisches Men'schin-Lächeln, das die Zähne entblößte und sich nicht in den Augen spiegelte. Höflichkeit. "Guten Abend, Khiray, kleiner Fuchs. Wie ich sehe, hast du dir meinen Rat nicht zu Herzen genommen und dich doch eingemischt."

"Wenn ich gewußt hätte, daß Euch mein Wohl so sehr am Herzen liegt, so hätte ich mich vielleicht eines anderen besonnen."

"Das wäre vorzuziehen gewesen. Khezzarrik khi Valangassis hätte keine Gelegenheit bekommen, mich so schmählich zu verraten. Du hättest den Preis nicht zahlen müssen. All diese unerfreulichen Dinge wären niemals geschehen."

"Sie wären jemand anderen geschehen", stellte Khiray fest. Sie wären Saljin geschehen - die eine Gefangene Galbrens geblieben wäre. Aber das sprach er nicht aus.

"Vielleicht... vielleicht auch nicht. Khezzarrik scheint großen Wert auf dich gelegt zu haben. Vielleicht bist du etwas Besonderes. Ja, ganz sicher. Sein nützlichstes Werkzeug - sein schärfstes Schwert. Ein anderer hätte nicht getan, was du getan hast. Nicht jeder schließt einen Pakt mit einem Dämon, im Bewußtsein, was ihm geschehen wird - und daß der Dämon ihn trotz allem verraten wird."

Khiray horchte auf. "Verraten?"

Alfon Sanass kicherte. "Aber natürlich! Hast du denn gedacht, Khezzarriks Pläne würden dort enden, wo er in die Hölle zurückkehrt? Oh nein. Er plant meine Vernichtung, aber auch deine. Er hat dich markiert. Und er hat eine Botschaft an mich gesandt, einen Abschiedsbrief sozusagen, in dem er das ganze Ausmaß seines Verrats schilderte. So ist seine Art nun einmal: es genügt ihm nicht, Dinge zu tun, er muß auch dafür gehaßt werden. Den Sieg auszukosten, ohne genügend Leid über eure Welt gebracht zu haben - ohne mich und meine Getreuen dem sicheren Untergang zu überantworten - nein, das ist für ihn nicht einmal vorstellbar. Ah, ich bewundere ihn! Was für ein exzellenter Planer, was für ein genialer Stratege! Ich möchte ihm das Fleisch mit kleinen Haken vom Leibe ziehen, aber er ist mir überlegen. Als ich ihm einst den Treueeid abnahm, glaubte ich, ihn gebändigt zu haben. Wenige Dinge sind so beständig und so mächtig wie der Eid unter Dämonen. Aber er hat einen Weg gefunden. Er hat mich glauben lassen, daß ich aus eigenem Willen handele, und er hat auch Galbren betört. Aber du..." Er machte eine Pause, dann breitete er die Arme aus und lachte jovial. "Du, kleiner Fuchs, bist der Kern seines ganzen Planens. Jemand mit genug Verstand, um hinter die ersten Schleier zu blicken, aber mit zuwenig Erfahrung - und vor allem ohne jedes Wissen um uns Dämonen -, um die Schleier dahinter auch nur zu sehen. Jemand mit genug Mut, sich gegen uns aufzulehnen, genug Eigensinn, genug Trotz - jemand mit einem starken Herzen. Jemand, der verrückt genug ist, einen Pakt mit einem Dämon einzugehen."

"Verrückt", sagte Khiray, "ist nicht das Wort, das ich benutzen würde."

"Verliebt, verrückt, was soll's." Sanass wedelte ungeduldig mit der Rechten. "Die Tollheit der Fellwesen. Die Tollheit von Kakerlaken. Khezzarrik hoffte auf Pallys, das Kaninchen. Er hat dich stattdessen bekommen. Nun, ein dummes Fellwesen ist so gut wie das nächste, würde ich sagen. Du bist seinen Spuren gefolgt, hast nach seinen Ködern geschnappt und seinen Plan vollkommen gemacht. Ah, die Kühnheit! Kakerlaken zu benutzen, um Könige zu stürzen!" Es war offenkundig, daß er von Khezzarrik sprach.

Der Fuchs war nicht begeistert davon, als Kakerlake bezeichnet zu werden. "Ich bin vielleicht auf ihn hereingefallen, aber ich wußte nichts von der Hinterhältigkeit der Dämonen. Ihr aber, werter Fürst, kanntet Khezzarrik genau und seid doch sein Opfer geworden."

Alfon Sanass schüttelte den Kopf. "Darum nimmt er nun meinen Platz in der Hölle ein. Aber ich bin ein schlechter Verlierer. Und du bist mein Opfer, so wie du vorher Khezzarriks Opfer warst. Eine Kakerlake, die hierhin und dorthin rennt und dabei doch nur den Plänen ihres Herrn folgt. Du wirst nichts anderes sein. Ich aber werde untergehen mit dem Glanz eines Höllenfürsten. Es bedarf eines Erzengels, mich zu schlagen, und ehe dieser erscheint, werde ich euch tausendmal strafen dafür, dem Falschen gedient zu haben, und mich an eurer Qual, eurem Schmerz, eurer Furcht, eurem Leid stärken, eure Lebenskraft aufsaugen, um dem Erzengel eine noch gewaltigere Schlacht bieten zu können!"

Die Barriere zischte und knisterte, als reagierte sie auf Sanass' Raserei.

"Wir sind hier, um zu kämpfen", sagte Khiray leise.

"Kämpfen?" Sanass brüllte vor Lachen. "Kämpfen! Ihr! Ich bin ein Fürst der Hölle! Ihr könnt mich mit eurem Spielzeug nicht bekämpfen! Eine Kakerlake mit einem Schwert ist immer noch nur eine Kakerlake! Ihr seid zu dumm, um zu verstehen. Ihr seid nicht hierher geschickt worden, um zu kämpfen, sondern um zu sterben. Khezzarrik hat dafür gesorgt, daß keine Spur seiner Pläne in dieser Welt verbleibt!"

"Wir sind nicht geschickt worden", protestierte Khiray. Die Entscheidung, nach Alvanere zu fahren, hatte er getroffen, nachdem Khezzarrik längst in der Hölle war. Er konnte sie nicht mehr beeinflussen.

Oder konnte er...?

"Dumme Fellwesen", seufzte Sanass. "Khezzarrik hatte alles geplant. Alles. Er wußte von Alvanere, er wußte von Pallys. Er wußte, daß Pallys hier den Erzengel rufen würde, noch ehe Pallys selbst es ahnte. Er wußte, wann es geschehen würde, und wie. Er kennt eure kleinen Herzen besser als ihr selbst. Er schickte mir eine Botschaft, so daß ich hierher kam, doch zu spät, als daß ich euch vom Zauber abhalten konnte. Und er markierte dich, kleiner Krabbler, mit seinem Zeichen, und gab mir die Waffe, deinen Geist in den Wahnsinn zu stürzen. Das ist sein Dank für deine Dienste, sein letzter Scherz, eines Dämonenfürsten wahrhaft würdig!"

Khiray erschauerte. Wenn Dämonen so etwas sagten, dann war es die reine Wahrheit - so oft sie sonst auch lügen mochten. Khezzarriks Pläne reichten also wahrhaftig über seinen Abschied hinaus. Es sah ihm ähnlich, Khiray vernichten zu wollen - wahrscheinlich gefiel es seinem Stolz nicht, in einem Pakt gefangen zu sein.

Würde der Pakt Khezzarrik wieder in die Freiheit entlassen, wenn er selbst tot war? Khiray hatte zwar Worte wie "nie wieder" benutzt, doch wenn der Pakt erlosch, hatten Worte keine Bedeutung mehr. Khezzarrik wäre frei, neue Tore zu öffnen, neues Unheil zu stiften. Und er würde es tun.

Wenn dem so war, spielte es nicht einmal eine große Rolle, ob er die Begegnung mit Sanass/Beladanar überlebte. Seine ganze Lebensspanne war nur ein Augenblick für den Dämonen; ein Moment, den der Höllenfürst geduldig abwarten konnte. Alles, was Khiray erreicht hatte, war ein Aufschub. Und nicht einmal das Schwert des Erzengels konnte Khezzarrik nun noch erreichen.

Aber noch waren Tors Pläne nicht aufgegangen. "Oh, großer Herr der Würmer, so habt Ihr Euch auch zu Khezzarriks Werkzeug machen lassen? Ihr zieht gegen mich ins Feld, obgleich Ihr wißt, daß Khezzarrik es so will? Warum verbergt Ihr Euch nicht vor den Augen des Erzengels, bis dessen Zorn vorübergezogen ist, und bemüht Euch dann um die Rückkehr in die Hölle, um Khezzarrik selbst zur Rechenschaft zu ziehen?"

"Verbergen? Mich verkriechen, als sei ich selbst eine Kakerlake? Dummes Fellwesen! Ich könnte nicht mehr in die Hölle zurückkehren, noch weniger, als ich es jetzt kann. Khezzarrik hat mich besiegt, auf eine Weise, die ihm all meine Ehre, meinen Ruhm, meine Macht eingebracht hat. Käme ich nun in die Hölle zurück, wäre ich einer unter vielen, und ich müßte meinen Aufstieg noch einmal beginnen. Würde ich mich aber hier verkriechen, so sähe man in der Hölle auf mich herab als den niedersten aller Dämonen, als ein Nichts ohne jede Ehre, als ein Ding, das es sich nicht lohnt anzublicken! Nein, der Kampf ist beendet; ich kann meiner langen Existenz nur noch einen glorreichen Schlußpunkt hinzufügen, und so sollte es sein. Noch bin ich ein Fürst, und es ist besser, als Fürst der Hölle unterzugehen als als jämmerliche Kakerlake unter den Füßen der Mächtigen zu existieren!"

Die Dämonen draußen rückten näher. Nicht alle hatten mehr die Gestalt von Felligen. Einige wirkten haarlos, verkrümmt, verformt, als seien sie dabei, ihre wahre Gestalt anzunehmen. Augen glühten in der Dunkelheit der Halden, anders als Felligen-Augen, die das Licht nur reflektierten. Dort draußen begann das Leuchten der goldenen Adern bereits zu verblassen, und so konnte Khiray die Zahl der Dämonen nur anhand der Augenpaare abschätzen.

Es waren jedoch bereits zu viele. Mehr als fünfzig, mehr als hundert... ganz abgesehen von denen, die sich noch versteckt halten mochten. Wie gut die Stäbe auch sein mochten, gegen eine solche Übermacht halfen sie wenig.

Wo blieb der Erzengel?

Sanass ging an der Barriere auf und ab. "Was euch Kakerlaken angeht... vielleicht folge ich Khezzarriks Plänen. Doch es spielt nur eine sehr geringe Rolle. Für ihn habt ihr eure Nützlichkeit überschritten; ihr seid lästig geworden, und er hat euch mir als Abschiedsgeschenk überreicht. Es ist sein Plan, aber er richtet sich nicht gegen mich, und ich gedenke das Geschenk anzunehmen, auch als Tribut an den Fürsten, der mich geschlagen hat. Man wird diese Geste in der Hölle zu würdigen wissen. Ein letzter Genuß vor der großen Schlacht." Sanass strich mit den Händen über die Barriere, als teste er ihre Festigkeit. Die grünen Funken wurden zu Flammen, einer Feuerwand, die die Men'schin-Form von Galbrens ehemaligem Berater völlig verhüllte. Die Magie tobte kreischend über Sanass' Gestalt und erlosch dann plötzlich. Die Barriere war noch vorhanden; Khiray konnte die Funken weiterhin sehen. Doch Sanass hatte sie nicht geschadet. Er hatte die Hände zurückgezogen und betrachtete sie - nachdenklich, wie es schien. "Ich werde euch nicht alle töten", fuhr er fort, als sei nichts geschehen. "Du wirst überleben, und diese vierbeinige Kakerlake dort drüben auch. Natürlich wirst du unter dem ewigen Schatten Khezzarriks leiden, und wenn du ihm wahrhaft entkommst, wirst du vor Augen haben, was ich mit diesem Wesen dort tue." Er warf einen Blick zu Saljin hinüber. "Diese seltsame Verbundenheit von dummen Fellwesen untereinander ist so... eigentümlich. Sie schenkt uns tausend neue Möglichkeiten, euren Schmerz zu verfeinern. Ich glaube, nicht einmal Khezzarrik versteht wahrhaft, was euch daran so bewegt. Eure Götter haben euch keinen Gefallen getan, als sie euch mit derartigen Merkwürdigkeiten bedachten. - Laß mich sehen."

Sanass' Men'schin-Augen weiteten sich, wurden nachtschwarz, dann blau - ein blaues Licht, das aus der Tiefe kam, ein sehendes Feuer. Plötzlich kehrten die ursprünglichen Augen wieder zurück. Sanass seufzte zufrieden. "So einfach. Das Saljin-Wesen liebt es, über weite Ebenen zu laufen. Die Sonne zu sehen. Was für jammervolle Freuden. Und so schnell genommen. Ich werde ihr die Arme und Beine ausreißen und sie blenden. Natürlich ohne sie zu töten; ihr seid ja so zerbrechliche Dinger. Für den Rest ihres Lebens soll sie als blinde Made auf dem Bauch durch die Gegend kriechen." Er kicherte. "Ich kann bereits fühlen, wie dein Zorn, deine Furcht und dein Abscheu größer werden. Gib mir mehr davon, kleines Fellwesen! Jetzt, wo du das Spiel in seiner Gänze verstehst, gib mir all deinen Haß!"

Khiray schloß die Augen. Rede nur, dachte er. Genau das war Sanass' Ziel: Angst zu trinken, sich an der Furcht zu weiden. Der Fuchs war entschlossen, seinen Gleichmut zu wahren, ihm nichts von alldem zu gönnen. Aber die Bilder, die vor seinem geistigen Auge erschienen, waren zu entsetzlich, um sie zu ignorieren. Saljin, grausam verstümmelt - nein, er würde es nicht zulassen! Niemals.

Aber er hatte bereits die Kontrolle verloren. Sein Fell war gesträubt, sein Schwanz buschig aufgestellt, seine Beine zitterten. Er mußte all seine Willenskraft zusammennehmen, um auch nur seine Ohren wieder nach vorne zu richten. "Warum wir? Warum immer wir?" Nein, das war falsch; es klang so... flehend. Er konnte Sanass/Beladanar nicht mit Furcht in der Stimme gegenübertreten. Er brauchte es nicht. Zwischen ihnen lag ein magischer Zaun. Er war bewaffnet. Der Erzengel würde nun kommen. Aber er hatte dennoch Mühe, ein Schluchzen zu verhindern.

"Warum? Nun, weil Khezzarrik euch ausgewählt hat, nehme ich an..." Sanass tippte sich mit einem Finger an das Kinn. "Ich habe große Mühe, euch Fellwesen überhaupt auseinanderzuhalten. Ich verstehe euch nicht, so wie Khezzarrik euch versteht. Wahrscheinlich habe ich euch nicht genug studiert. Aber ich hätte nie gedacht, daß meine Macht einmal von solch belanglosem Wissen abhängen könnte. Khezzarrik versteht es, jede kleine Schwäche seiner Gegner zu nutzen... Warum ihr? Ihr seid Khezzarriks wichtigste Werkzeuge gewesen. Es ist... wie würdet ihr es sagen? Ästhetisch. Ein Akt der Schönheit. Unser Spiel wird dadurch zur Vollkommenheit verfeinert."

Schönheit? Vollkommenheit? Das war nicht, was Khiray darunter verstand. Langsam begriff er, was Ghanzekk gedacht hatte, als er den Plan faßte, alle Dämonen auszurotten. Er konnte es dem Leoparden nicht verdenken. Zwischen Dämonen und Sterblichen konnte es nie friedliche Koexistenz geben. Entweder die undurchdringliche Barriere der Sphären und Ebenen lag zwischen ihnen, oder es kam unweigerlich zur Konfrontation. Die Dämonen waren böse. Nicht aus ihrer Sicht, wenn sie überhaupt einen Begriff für das Böse hatten, doch aus der Sicht aller Sterblichen. Sie waren unfaßbar grausam und unglaublich mächtig.

Kein Dämon durfte überleben. Nicht in dieser Welt. Und solange Khezzarrik lebte, würden immer wieder Dämonen hierher kommen... Pakt oder nicht. Der Tod würde den Pakt beenden. Jetzt war Khiray davon überzeugt. Khezzarrik hätte sich nicht darauf eingelassen, bis auf alle Ewigkeit an sein Wort gebunden zu sein.

Khirays Gedanken schienen sich im Kreis zu drehen. Ein Labyrinth ohne Ausweg. Sie konnten Khezzarrik nicht töten. Sie würden Mühe haben, gegen die Dämonenarmee zu überleben.

Er wünschte sich, wenigstens Sanass' Worten etwas Trotziges entgegenhalten zu können. Aber in diesem Moment gab Sanass/Beladanar ein Zeichen, und der Angriff begann.

Die Dämonen stürmten über den Platz. Kaum einer besaß noch die Gestalt eines Felligen, doch sie alle zeigten noch Merkmale von Ratte oder Katze, Wolf oder Fuchs. Fellige Arme ragten aus schuppigen, kriechenden Körpern. Buschige Schwänze wehten hinter massigen Leibern her, die wie Trolle aus Stein gehauen schienen. Einige Dämonen waren klein, mit langen Armen und Beinen, zahnbewehrten Mäulern und schiefen Augen. Andere ragten hoch auf, dürr und zerbrechlich wirkend. Die meisten hatten noch zwei Arme und zwei Beine und so etwas Ähnliches wie einen Kopf, aber nicht alle - Khiray sah eine formlose, gallertige Kugel heransausen, aus der auf allen Seiten wirbelnde Tentakel sprossen, und einen meterlangen Wurm mit Spinnenbeinen, dessen Rücken mit peitschenden Nesselfäden besetzt war.

Noch nicht.

Sanass/Beladanar rührte sich nicht von der Stelle, machte keine Anstalten, die Dämonen zu kontrollieren oder anzuleiten. Wahrscheinlich hätte er damit auch keinen Erfolg gehabt. Die Dämonen waren schon lange in Gestalten gezwängt, die nicht die ihren waren, und zu Verhalten gezwungen gewesen, das nach ihren Maßstäben wohl langweilig und beschränkt war. Nun, da ihr Untergang bevorstand - wußten die niederen Dämonen das? -, konnten sie sich austoben. Die heulende, kreischende Horde war jenseits jeder Kontrolle.

Wenn sie alle über Magie verfügten, und diese Magie gleichzeitig gegen die Barriere warfen, wie lange würden die acht Stäbe sie dann aufhalten?

Khiray hatte keine Lust, es auszuprobieren. Die ersten erreichten die magische Linie, nur wenige Meter von ihm entfernt, und rannten sehenden Auges in die Barriere hinein. Grünes Feuer flammte auf, Dämonenstimmen schrillten. Verbrannte Körper fielen zu Boden oder taumelten ziellos zurück.

Ein Großteil der Dämonen war nun auf dem Platz. Wenn sich nicht weitere im Schutt versteckten - und das schien dem Fuchs unwahrscheinlich; welcher Dämon würde sich diese wilde Attacke entgehen lassen? -, so hatte Beladanar mehr als zweihundert Getreue bei sich. Auf jeden von Ghanzekks Stäben kamen also vier Dämonen, die es zu vernichten galt.

Und Beladanar selbst.

Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Khiray konzentrierte sich auf das Jetzt, das einzige, was für einen Krieger zählen durfte, wenn er überleben wollte. Strategien gegen Beladanar gab es nicht. Der Erzengel mußte kommen. Alles, was ihnen blieb, war rohe Gewalt - magische Kräfte.

Er löste die im Boden steckenden Stäbe des äußersten Kreises mit gezielten Handbewegungen und der richtigen Silbe aus, dann die des mittleren Kreises. Das grüne Feuer sprang aus den magischen Waffen und suchte sich sein Ziel. Fryyk und Sarmeen taten dasselbe auf ihren Seiten. Praktisch gleichzeitig waren die Dämonen von feindlichen Energien eingehüllt. Vierzehn tö ;dliche Entladungen fuhren in die Körper der überraschten Angreifer.

Die Dämonen hatten anscheinend wirklich nicht damit gerechnet; selbst Beladanar sah verblüfft aus. Hatte er die Stäbe nicht gesehen, ihre Magie nicht wahrgenommen? Es war möglich - Ghanzekk hatte siebentausend Jahre damit zugebracht, den Zauber zu verfeinern.

Einige Dämonen schienen regelrecht zu platzen, lösten sich in grünem Schleim oder stinkendem Qualm auf, den Khiray bis zu seinem Standort hin riechen konnte. Andere verschmorten, schrumpften zu schwarzen Klumpen zusammen, die noch ein Stück über den Boden rollten, getragen vom eigenen Schwung.

Die Höllenwesen, die noch weiter entfernt waren, hielten inne. Nicht so die, die der Barriere am nächsten waren - sie rannten in die magische Linie hinein, wurden zurückgeworfen, verletzt, einige tödlich getroffen. Vier oder fünf wurden von dem Zauber eingefangen und blieben im grünen Feuer hängen, ganz so wie die Bären vor einigen Tagen. Kreischend und in fremden Zungen fluchend wanden sie sich unter dem Ansturm des verderblichen Spruchs.

Noch während Khiray hinsah, besannen sich die Dämonen der hinteren Linien eines Besseren. Sie setzten ihren Angriff fort - jubelnd, wie es schien. Was bejubelten sie? Daß dieser letzte Kampf trotz ihrer Übermacht interessanter sein würde, als sie erwartet hatten? Brachte ihnen das in der Hölle Ruhm und Ehre ein - posthum?

Der Fuchs gestikulierte ein weiteres Mal. Doch diesmal gab es auf Seiten der Dämonen nicht vierzehn Opfer - einige der Höllenwesen schienen sich gegen Ghanzekks Magie mehr oder weniger erfolgreich abschirmen zu können. Blaues, rotes, gelbes Feuer widersetzte sich dem grünen. Thaumaturgische Kugeln, für sterbliche Augen sonst unsichtbar, erschienen als flammenumhüllte Schirme, die die Dämonen vor der Vernichtung bewahrten. Nicht immer erfolgreich - Khiray sah einige langbeinige Wesen zusammenbrechen, und ein spinnenbeiniger Wurm hatte seine Nesselfäden verloren -, doch leider ließen sich die Kreaturen von schwersten Verletzungen nur mäßig beeindrucken. Sie kämpften weiter bis zur völligen Auflösung ihrer Körper.

Dann fuhr er zusammen. Die in der Barriere gefangenen Dämonen waren nicht alle vernichtet worden! Einige von ihnen wanden sich immer weiter, wie ein Gaukler, der sich zur Belustigung der Zuschauer durch ein viel zu enges Loch zwängt. Oder wie ein Dieb, der durch eine Mauerritze schlüpft. Nur waren dies nicht nur Diebe, sondern Mörder. Khiray hob das Dekka'shin und schlug zu - kunstlos, doch sehr effektiv. Das grüne Feuer blitzte nur einen Moment lang auf, und der geschwärzte Kopf des Dämons rollte über den Boden.

"Ich sehe, ihr habt Ghanzekks Magie noch etwas weiter verfeinert", sagte Sanass/Beladanar bewundernd. "Mehr Strategie, als ich mir erhoffen konnte - mehr Geschick, als ich erwartete. Ihr seid würdige Gegner für meine unglücklichen Gefolgsleute."

Khiray erwiderte nichts. Er hatte nichts zu gewinnen, indem er weiter mit Beladanar redete - die Schlacht war in vollem Gange. Es gab keinen Aufschub und keine Verzögerung mehr. Er trennte einem weiteren Dämon den Leib durch, gerade als dieser die andere Seite erreichte.

Es konnte nicht mehr lange dauern. Sie konnten es schaffen. Noch hatte kein Dämon die Barriere durchdrungen - die sieben Krieger waren auf ihrem Posten.

"Unglücklicherweise", fügte Alfon Sanass hinzu, "neigt sich die Zeit dem Ende zu. Ich muß das Bild vervollkommnen. Die Kunst der Qualen verlangt, daß ich die Geschehnisse perfektioniere, ehe mein einzig würdiger Gegner erscheint und die letzte Schlacht beginnt." Er streckte eine Hand aus - direkt durch die Barriere. Das grüne Feuer zischte empor, aber Sanass/Beladanar störte sich nicht daran. Er machte einen Schritt vorwärts.

Khiray stieß das Dekka'shin mitten in das Zentrum der flammenden Energien. Sanass machte einen Satz rückwärts, aus der Reichweite der Waffe heraus. "Nun, nun, kleines Fellwesen. Du wirst mich doch nicht daran hindern wollen?"

Der Fuchs ließ sich nicht täuschen. Das Dekka'shin konnte Beladanar verwunden! Vielleicht nicht töten - vielleicht konnte der Dämonenfürst seine Wunde so schnell heilen, wie Khezzarrik es getan hatte -, aber es mußte genügen, ihn aufzuhalten. Er würde nicht zulassen, daß Saljin irgendein Leid geschah!

Sanass betrachtete geflissentlich seine Fingernägel. "Mit wem von euch ich beginne, ist eigentlich belanglos. Nun, wenn du der erste sein möchtest, sei dir dein Wunsch gewährt." Er murmelte einige Worte.

Ein dumpfer Druck entstand hinter Khirays Stirn. Was tat Beladanar da? Konnte er ihn mit einem Zauber aus der Entfernung, durch die Barriere hindurch, töten? Der Fuchs schwenkte das Dekka'shin über die magische Linie, doch Sanass/Beladanar befand sich zu weit entfernt, und Khiray wagte nicht, den Kreis zu verlassen.

"Erinnerst du dich an eine Nacht in der Hölle?" fragte Sanass. Nein - nicht wirklich Sanass. Die Gestalt von Galbrens Men'schin-Berater schien zu zerfließen. Was sich dahinter verbarg, war größer, dunkler, mächtiger. Aber der Dämon beendete die Transformation nicht, sondern blieb als unscharfer Schatten bestehen, der die Züge seines Men'schin-Wirtskörpers verzerrte und verfinsterte. "Khezzarrik hat mir in aller Ausführlichkeit davon in seiner letzten Botschaft berichtet. Ich wäre gern dabeigewesen, aber natürlich konnte Khezzarrik nur seine engsten Gefolgsleute einladen. Ein göttliches Fest, wenn auch der letzte Funken der Verzweiflung fehlt - der Funken, der nur durch Ausweglosigkeit entsteht, durch die völlige Abwesenheit von Hoffnung. Nur, wenn das Leiden durch das Wissen gewürzt ist, daß es niemals endet - nur dann ist die Qual vollkommen. Aber das kann ich nachholen." Eine Hand - zu schwarz und zu groß und mit zu vielen Fingern, als daß sie einem Men'schin gehören könnte - tauchte in die vielfaltige Dunkelheit von Beladanars Körper ein und brachte eine kleine blaue Kugel hervor.

"Erinnerungen, kleines Fellwesen", schmeichelte der Dämon. "Ein Teil des Geschenks, das Khezzarrik mir gemacht hat. Deine Erinnerungen. Eine Nacht in der Hölle. Eingefangen in kristallklarer Deutlichkeit, um dich für alle Zeit zu beglücken, jeden Tag, jede Nacht, so vollkommen, als wärest du noch immer in seinem Reich. Vielleicht ist dein Körper entkommen, aber dein Geist wird für immer sein Gefangener bleiben." Er zerdrückte die Kugel. Das Blau darin zerstob.

Aber Khiray wußte noch im selben Moment, wo es geblieben war. Ein grausamer Schmerz schoß durch seinen Körper.

(Ketten)

Er war in der Hölle. Nein, er stand noch immer im innersten Kreis der Verteidiger des Tempels... Er hörte Khezzarrik sprechen. Nein, die Stimme gehörte Beladanar. Es geschah gleichzeitig - er war ebenso hier wie dort, hier in seinem Körper, dort in seiner Erinnerung, die so deutlich und scharf war, als geschähe alles jetzt.

(Messer)

Zwei Bilder, zwei Geschehen. Alles wirbelte in seinem Kopf durcheinander. Doch der Schmerz schien stärker zu sein als alles andere. Er sank auf die Knie; das Dekka'shin fiel zu Boden. Unfähig, Beladanar aufzuhalten.

(Haken)

Die Qual des Dann wurde zur Verzweiflung im Jetzt. Das also war Khezzarriks letzte Waffe gegen ihn, sein Abschiedsgruß. Er hatte ihn zum Werkzeug gemacht, zu einem willigen Diener, und belohnte ihn mit dem Wahnsinn. Im Chaos zweier gleichstarker Eindrücke konnte Khiray kaum noch klar denken.

Jeden Tag, jede Nacht... Beladanar kannte diesen Zauber. Er würde niemals enden. Wenn die Nacht in der Hölle vorbei war, würde sie von neuem beginnen, wieder und wieder, und mehr als nur einen Schatten auf sein Leben werfen.

(Schrauben)

Ein Leben war nicht möglich in dieser Flut - diesem Wasserfall der Erinnerung. Keine Traumbegleiter, keine Trolle konnten ihm diesmal helfen. Khiray spürte, wie er langsam in die Dunkelheit zu sacken begann. Einmal war er daraus zurückgekehrt. Ein zweites Mal würde er diesen Pfad nicht gehen.

(Peitschen)

Beladanar trat durch die Barriere. Für einen Moment konzentrierte sich die Energie der Stäbe auf ihn, doch der Dämon umgab sich mit einem magischen Schild und ließ den Zauber abtropfen. In derselben Sekunde durchdrangen die Dämonen, die mehr oder weniger hilflos in der Barriere festhingen, und ein Dutzend weitere, die nur auf ihre Chance gewartet hatten, den Wall. Noch ehe sich die Barriere wieder verfestigt hatte, standen zwanzig oder mehr Dämonen im innersten Kreis und griffen die Verteidiger direkt an.

Es war ihnen unmöglich, die Stäbe der äußersten Kreise noch einmal wirken zu lassen. Dem Ansturm der Höllenwesen konnten sie nur mit all ihrer Kraft und Geschicklichkeit begegnen. Khiray nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie Perlish gegen drei oder vier krallenbewehrte Derwische seinen Stab kreisen ließ. Die Dämonen sprangen aus dem Weg, tauchten hier und dann dort auf, vermieden das grüne Feuer. War einer von ihnen gefallen, erschien bereits ein anderer, der in der Zwischenzeit windend und zuckend die Barriere überwunden hatte, um seinen Platz einzunehmen. Keiner der Verteidiger hatte mehr Zeit, die Eindringlinge abzufangen, ehe sie gänzlich im innersten Kreis standen.

Beladanar sah auf Khiray hinab. "Ich hoffe, kleines Fellwesen, daß du noch genügend bei Verstand sein wirst, um die Vollkommenheit des Spiels zu würdigen. Es wäre ein Makel, wenn du hier und jetzt den Verstand verlörest."

Der Fuchs hatte nicht vor, den Verstand zu verlieren - noch kämpfte er. Aber die Erinnerung war stärker. Sie lähmte seine Muskeln, biß durch seinen Willen. Kreischende Agonie in Sehnen und Knochen durchflutete seinen gepeinigten Körper. Die Dunkelheit war so nahe. Alles verschwamm vor seinen Augen.

Beladanar gab seinen Dämonen einen Wink. Ein halbes Dutzend ließ von ihren Opfern ab und stürzte sich auf Saljin. Die Fuchstaurin schwang ihr Dekka'shin herum. Die Leichen toter Höllenwesen zu ihren Pfoten bewiesen ihre Meisterschaft im Kampf. Aber die Übermacht wurde erdrückend. Stählerne Klauen waren ebensogute Waffen wie Schwerter - keiner der Dämonen besaß eine Waffe, doch ihre Fänge und Krallen, ihre stahlharten Schuppen und knochigen Kämme glichen diesen Nachteil leicht aus.

Der Höllenfürst tänzelte auf die Fuchstaurin zu. Plötzlich schoß das Dekka'shin vor und berührte die wabernden Schatten der Maske, hinter der der Herr der Würmer sich verbarg. Saljin hatte rechtzeitig gesehen, daß sie von einer weiteren Seite aus angegriffen wurde.

Beladanar zuckte zur Seite und brüllte auf. Die Magie Ghanzekks fügte ihm Schmerzen zu - Dunkelheit troff aus der Seite der Gestalt.

Natürlich. Der Teil von Khiray, der die Lage noch vernünftig betrachten konnte, zog seine Schlüsse. Die Dämonen schützten sich gegen die Stäbe mit magischen Schilden. Aber der Trollstahl ließ sich durch Magie nicht aufhalten, und wenn er in die Körper der Dämonen schnitt, fraß sich Ghanzekks Zauber von innen heraus in die Höllenkreaturen. Ebenso müßte eine Berührung der Stäbe sich auswirken, nur daß der Zauber die Haut der Dämonen zuerst verätzte und dabei schon an Kraft verlor.

Ein Dekka'shin konnte Beladanar aufhalten, eine Zeitlang zumindest. Nur daß er selbst es nicht mehr führen konnte. Khiray war geschlagen, in die Hölle zurückgekehrt, gefangen in einem Meer des Schmerzes und der Verzweiflung. Die Dämonen kümmerten sich nicht mehr um ihn. Er hatte in dem vollkommenen Spiel der Dämonenfürsten seinen endgültigen Platz eingenommen. Eine Figur, die niemand mehr ziehen würde.

Saljin halbierte einen weiteren springenden Dämon und schüttelte den ab, der auf ihren Rücken geklettert war, um ihn aufzuspießen. Dann brachte sie die Waffe herum, zwang Beladanar zu einem weiteren Rückzug und hob gleichzeitig einen der mittleren Stäbe auf, die ihr noch zur Verfügung standen.

Zwei kleine Dämonen verglühten in einem Ascheregen, als die Energie des Stabes über sie hinwegfegte. Für einen Moment war Saljin von Feuer umgeben. Das brachte ihr den kurzen Augenblick der Freiheit, den sie brauchte. Sie zielte mit dem Stab auf den Herrn der Würmer und gab dessen ganze Energie frei. Ein hörbares Dröhnen begleitete den Aufschlag auf den Schild Beladanars. Die halb Men'schin-ähnliche, halb monströse Gestalt schwankte und kämpfte um ihr Gleichgewicht. Sofort stieß die Fuchstaurin nach, diesmal mit dem Dekka'shin. Die Klinge durchdrang den unsichtbaren Schild und glitt tief in den Schattenmantel hinein.

Beladanar schrie. Aber er starb nicht. Ghanzekks Zauber war nicht mächtig genug, um einen Höllenfürsten zu töten. Das grüne Feuer des Stabes erstarb, bis zum Letzten verausgabt. Hinter dem Alfon Sanass-Körper waren für einen Moment Formen zu sehen, die vielleicht Beladanars wahre Höllengestalt beschrieben - eine wurmartige Masse sich windender Tentakel, eine Ahnung rotierender Zahnkränze in schmatzenden Saugmäulern, ein Schemen stachelbewehrter Extremitäten und halbblinder kugeliger Augen. Dann verbargen die Schatten die grauenhafte Jenseitsgestalt wieder, und der Men'schin-Wirt wurde wieder deutlicher.

Saljin aber hatte ihre Waffe verloren. Ghanzekks Magie hatte den Herrn der Würmer verletzt, doch das Dekka'shin hatte all seine Kraft hergegeben, war nun nur noch eine gewöhnliche Doppelklingen-Lanze - wertlos in der Schlacht gegen einen Dämon. Die Fuchstaurin versuchte nicht erst, das Dekka'shin ein weiteres Mal einzusetzen. Als Beladanars Hände vorstießen und ihr die Waffe entrissen, ließ sie los und packte stattdessen mit jeder Hand einen der verbliebenen mittleren Stäbe.

Beladanar musterte das Dekka'shin. Dann brach er spielerisch eine der Klingen ab. Ghanzekks Stab gab nach wie morsches Holz; der Zauber war gewichen.

Die Schatten blubberten belustigt - wenn Beladanar in seiner wahren Form hinter den Schemen so etwas wie Belustigung empfinden konnte.

Dann zuckten seine Arme vor, den längeren Rest des Dekka'shins haltend, und rammten das geborstene Ende des magischen Stabes durch Saljins Oberkörper.


Ende von Kapitel Dreiundzwanzig