Kapitel Zwanzig


Der Speiseraum war zu groß für die kleine Crew, die sich an einem Tisch nahe der Küchentür versammelte. Draußen trommelte der Regen, der mit der Dämmerung eingesetzt hatte, auf die Planken. Der Speiseraum war von dem Unfall auf Dorns Schnellen nicht betroffen gewesen, so daß es drinnen warm und gemütlich war, während man sich draußen ein nasses Fell holte.

Die 'Silberne Ansicc' ankerte am Flußufer, ein Stück flußaufwärts von einem Fischerdorf. Eile war nicht mehr so wichtig. Die Flucht war beendet: die Dämonen und Galbrens Soldaten hatten sie bereits überholt, und ohne Tor war es ihnen unmöglich, ohne Vorwarnung anzugreifen.

Saljin hatte Khiray von allem berichtet, was Khezzarrik zu ihr gesagt hatte. Der Fuchs wußte das meiste jedoch bereits. Tor hatte auch ihm die Umstände des Pakts ausführlich dargelegt und den Hinterhalt an den zwei Flußarmen verraten. Der Dämon schien großen Wert darauf zu legen, daß Galbrens und Beladanars Pläne durchkreuzt wurden. Khiray würde seine Worte nicht vergessen - so wie er Khezzarrik selbst niemals vergessen würde.

Die anderen außer Saljin starrten ihn an. Er begann sich unbehaglich zu fühlen. "Es geht mir gut", antwortete er auf ihre unausgesprochene Frage, doch er sah den Zweifel in ihren Augen.

Aber es war wahr. Es ging ihm gut. Die Heilzauber, mit denen der Troll ihn belegt hatte, hatten seinen Körper wiederhergestellt und erfrischt. Er fühlte sich ausgesprochen wohl - als pulsiere die Energie einer sprudelnden Quelle in seinen Adern. Nur die Erinnerung an die Zeit in der Hölle - falls es die Hölle gewesen war - blieb als schwarzer Schatten auf seinem Geist bestehen.

Und er würde diesen Schatten nicht siegen lassen. Niemals. Beladanar mußte vernichtet und Galbren aufgehalten werden. Er würde tun, was immer dafür notwendig war.

"Wir müssen besprechen, was wir jetzt tun sollen", bemerkte er. "Ohne Tor sind Beladanars Truppen abgeschnitten. Die Invasion aus der Hölle ist beendet."

"Es sind noch mehr als genug Dämonen hier", brummte Pallys.

"Wir haben fünfzig Stäbe, die gegen sie eingesetzt werden können", beharrte Khiray. "Auch Dämonen sind nicht unsterblich." Das Kaninchen schwieg dazu und schien abzuwarten, aber der Fuchs konnte sehen, daß dem alten Lehrer etwas auf der Zunge lag.

"Willst du etwa Beladanars Schiff stürmen und die Dämonen niedermetzeln?" fragte Pakkaht. Der Hirsch wiegte sein Geweih hin und her. "Ich glaube nicht, daß das so eine gute Idee ist."

"Wir können sie besiegen!" rief Kinnih begeistert. "Wir haben die Waffen! Wir sind stärker als sie!"

"Sie sind uns zahlenmäßig wahrscheinlich überlegen", fiel Khiray ihm ins Wort. "Tut mir leid, Kinnih, aber wir werden nicht kämpfen."

Der junge Dachs fiel enttäuscht in seinen Stuhl zurück. "Was dann?"

"Wir sind nur zu acht. Aber wir haben fünfzig Stäbe. Wir bräuchten Unterstützung, um sie überhaupt alle benutzen zu können. Nein, wir machen mit dem Plan weiter wie bisher. Drunfürst Kooradah muß informiert werden. Er wird die weiteren Schritte einleiten. Seine Magier können die Stäbe benutzen oder sie erforschen und neue bauen. Ich habe kein Interesse daran, den Dämonen wiederzubegegnen, und es wäre auch sinnlos. Kooradah hat Macht und Einfluß. Wir sind nur eine zusammengewürfelte Gruppe von Reisenden."

"Endlich ein weises Wort", ließ Delley sich vernehmen. "Ich fürchtete schon, du würdest uns deinen neuesten Racheplan ankündigen."

Khiray blickte zu Boden. Rache? Es war ihm in den Sinn gekommen. Er hatte seinen Vater und seinen guten Ruf verloren durch die Schuld der Dämonen, durch die Schuld Beladanars. Und jene Nacht in der Hölle... aber Khezzarrik war der eigentliche Schuldige, und er war nun unerreichbar geworden. Ja, er mußte zugeben, es hätte ihm eine gewisse Befriedigung verschafft, Beladanar zu vernichten, Galbren zu töten. Er fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken. Nicht, daß er niemals zuvor gekämpft hatte - oder daß er niemanden je zuvor gehaßt hätte. Aber dies war etwas anderes. Dieser Haß war ein elementares Gefühl, etwas, das ständig im Hintergrund seines Denkens vorhanden war. Er konnte sich vorstellen, mit blutigem Schwert über Galbrens Leiche zu stehen und dabei zu lachen. Und das war etwas, was in seinen Büchern stets nur die Übeltäter und Schurken taten, niemals aber die aufrechten, strahlenden Helden. Was immer denen zustieß, sie blieben die gerechten, weisen, großmütigen Männer, als die sie auf der ersten Seite vorgestellt wurden.

Aber in Wahrheit war es nicht so. Vielleicht, mußte er erkennen, hatten die Ereignisse ihm einen Teils der Unschuld geraubt, mit der er die Welt zuvor gesehen hatte. Vielleicht hatten sie auch nur einen dunklen Keim genährt, der zuvor schon vorhanden gewesen war, einen Makel, der ihn immer von den vollkommenen Helden trennen würde.

Oder vielleicht war er nur erwachsen geworden und sah nun die Welt als das, was sie war: ein Ort, an dem die Gerechtigkeit nicht immer siegte, an dem das Gute nicht immer triumphierte, wo man vielleicht nicht einmal immer sagen konnte, wo das Böse endete und das Gute begann.

Nichts war mehr so, wie es war. Aber er mußte damit leben.

"Keinen Racheplan. Aber einen Plan brauchen wir, wenn Galbrens Verbündete beide Flußarme blockieren. Ich habe mir folgendes gedacht: Schnelligkeit ist nicht mehr so wichtig. Wir müssen unerkannt bleiben, heimlich reisen, dem Hinterhalt entgehen, indem wir uns versteckt halten. Wir kommen nicht einmal in die Nähe der Dämonen; wir wissen nicht, ob sie uns belauschen können."

"Wenn das so ist, machen Pläne auch keinen Sinn", stellte Fryyk fest.

Khiray seufzte. "Du hast recht. Aber vielleicht spüren sie unsere Anwesenheit, auch wenn wir verkleidet sind. Daher nehmen wir die Route nach Larynedd. Dort lauern nur die Soldaten, und die können garantiert nicht durch eine Maske schauen."

"Wenn dieser Dämon die Wahrheit gesagt hat", warnte Pakkaht.

"Ja. Wenn er es nicht getan hat, werden wir einen neuen Plan brauchen. Bis dahin müssen wir davon ausgehen, daß wirklich nur Soldaten am Fluß warten. Wir werden bei der nächsten möglichen Gelegenheit ein anderes Schiff kaufen - kein schnelles Otterschiff, sondern einen langsamen Händlerkahn. Die 'Ansicc' lassen wir als Pfand zurück; ich kann sie dann später wieder auslösen. Wir beladen den Kahn mit Steinen, um eine Ladung vorzutäuschen - unter Galbrens angeworbenen Felligen befinden sich sicher auch erfahrene Flußfahrer, die den Ladezustand am Tiefgang erkennen können. Kein Schiff fährt unbeladen nach Larynedd; sie könnten Verdacht schöpfen."

"Du denkst an alles", spottete Pakkaht. "Aber in Wirklichkeit sind die meisten Leute dumm und unaufmerksam. Sie trotten durch den Tag und erkennen kaum, was um sie herum passiert. Taschendiebe haben es leicht in dieser Welt."

Khiray warf ihm einen scharfen Blick zu. "Du mußt es wissen, oder? - In jedem Fall werden wir so vorgehen. Ein Verdacht genügt, und wir müssen nicht unbedingt ein unnötiges Risiko eingehen. Saljin, ich fürchte, wir müssen dich verstecken, bis wir in Larynedd sind. Wir anderen verkleiden uns unserer Rolle als einfache Händler entsprechend. Vielleicht können wir noch drei oder vier Leute anheuern, so daß die Soldaten auch nicht anhand der Mannschaft ahnen können, wer wir wirklich sind." Er hielt inne. Der Gedanke, die 'Silberne Ansicc' zurückzulassen, behagte ihm gar nicht. Er wagte auch nicht, Delley oder Kinnih als Wache zurückzulassen - falls die Dämonen sie doch suchen würden, mochten sie auf das fast verlassene Schiff stoßen und ihren Zorn an jedem auslassen, den sie darauf fanden.

Im Grunde war es schon nicht richtig, die 'Ansicc' als Pfand zu hinterlassen. Die Bedrohung durch die Dämonen hing wie ein sehr realer Fluch über dem Schiff. Aber das Gold, das er noch im Versteck seines Vaters besaß, mochte nicht reichen, um ein Händlerschiff zu kaufen - Schiffe kaufte man gewöhnlich auf Werften oder auf den Schiffsmärkten in den großen Städten, nicht irgendwo auf dem Fluß in einem Dorf. Der Kapitän ihres Neuerwerbs würde wissen, daß sie in einer Notlage waren, und schamlos überhöhte Preise verlangen. Zudem konnte er die 'Ansicc' ganz sicher nicht irgendwo am Fluß verstecken; jemand hätte sie gefunden und als Treibgut für sich beansprucht.

Er konnte nur hoffen, daß entweder die Dämonen ihn nicht verfolgten oder, wenn sie es taten, den Pfandleiher nicht behelligten. "Von Larynedd aus werden wir ein Seeschiff nach Drun'kaal nehmen. Auf diese Weise vermeiden wir jede Begegnung mit den Dämonen, schlüpfen unter den Augen der Soldaten durch und erreichen unser Ziel."

"Werden die Soldaten nicht jedes Schiff durchsuchen, das sie sehen?" fragte Saljin.

Der Fuchs schüttelte den Kopf. "Nein, das können sie nicht. Du hast gesehen, daß hier in der Gegend schon viel mehr Dörfer stehen als nördlich von Bärenberg. Bis hinab nach Larynedd gibt es mehrere Städte und eine Unzahl kleinerer Siedlungen. Das Land westlich des Flusses bis hin zu den Bergen ist reich und fruchtbar und entsprechend dicht besiedelt, und östlich des Flusses gibt es auch noch viele Dörfer, bis zum Rand des großen Sumpfes. Hier im Süden des Armygan leben die meisten Felligen; hier entlang der Küste hat die Besiedelung begonnen. Es gibt viel Schiffsverkehr, mehr als die Soldaten kontrollieren können. Sie würden sich auch verdächtig machen, wenn sie es täten. Galbren hat keine Rechte hier unten."

"Und er ist nicht da, um seine Rekruten anzutreiben", bemerkte Delley. "Ja, es könnte klappen. Ich bin nicht besonders begeistert davon, die 'Ansicc' in den Händen von Fremden zu lassen, aber der Plan ist gut."

Pallys erhob sich. "Nein, das ist er nicht."

Aller Augen richteten sich auf ihn. "Warum nicht?" fragte Khiray. "Wir kämpfen nicht, wir riskieren nichts, wir vollenden unsere Mission. Hast du dich nicht gegen das Risiko ausgesprochen?"

Das alte Kaninchen nickte. "Ja. Aber die Dinge haben sich geändert. Nicht nur für uns, sondern auch für die Dämonen, und das macht mir Sorgen. Khiray, du beharrst auf deinem Plan, zu Kooradah zu gelangen. Doch ich glaube nicht, daß die Dämonen ihren bisherigen Absichten treu bleiben."

"Was dann?" fragte Saljin. "Was sollen sie anderes tun? Es gibt kein Zurück."

"Wenn Beladanar klug wäre, würde er Galbren Lebewohl sagen und sich versteckt halten. Dämonen sind nicht in dem Sinne sterblich wie wir. Sie können hundert Jahre oder länger in einem Versteck ausharren, bis niemand mehr von ihrer Anwesenheit weiß. Dann könnten sie Zauberer suchen, die ihnen den Rückweg in die Hölle ermöglichten."

Saljin seufzte. "Daran hatte ich auch schon gedacht. Ich wußte nicht, ob es solche Zauberer hier gibt..."

"Es gibt sie. Nicht viele, aber es gibt sie. Wir wären unsere Sorgen los, wenn Beladanar und sein Gefolge auf diese Idee kämen. Aber ich kenne den Herrn der Würmer. Er wird toben vor Wut. Sein Zorn wird ihn die Furcht um seine Existenz vergessen lassen."

"Ein Berserker", murmelte die Fuchstaurin. "Khezzarrik hat erwähnt, daß Beladanar so reagieren würde."

Pallys nickte. "Er wird nur noch an Vernichtung und Rache denken. Er hat keinen wirklichen Pakt mit Galbren; der Gouverneur hat den Preis nicht bezahlt, und Beladanar ist nicht auf Gedeih und Verderb an ihn gebunden."

"Woher weißt du das?" wollte Kinnih wissen.

"Es würde nicht in Beladanars Pläne passen. Ein Pakt, der ihn zur Unterstützung Galbrens zwingt, würde ihn praktisch zu einem Sklaven machen, und die Entlassung aus dem Pakt oder seine Erfüllung würden seine Rückkehr in die Hölle bedeuten. Es hat schon früher Zauberer gegeben, die Pakte mit Dämonen geschlossen haben. Es gibt da ein paar Regeln, an die auch der Herr der Würmer sich halten muß."

Khiray ließ die flache Hand auf den Tisch niedersausen. "Er wird uns also verfolgen, mit allen Dämonen und all seinem Haß."

"Nein." Pallys schüttelte den Kopf. "Er weiß nicht, wo wir sind. Er kann nicht den ganzen Fluß absuchen. Seine Geduld ist sehr gering, nun, da er jeden Moment mit dem Auftauchen eines Erzengels rechnen muß. Ich glaube nicht, daß seine Berserkerwut ihm auch nur die Erinnerung läßt, wer wir sind. Wir waren ja nur Khezzarriks Werkzeuge, ununterscheidbar von all den Tausenden anderer Felliger im Armygan."

"Werkzeuge oder nicht", bemerkte Pakkaht, "wir haben seine Pläne durchkreuzt. Warum sollte er uns jetzt einfach vergessen?"

"Er wird seiner wahren dämonischen Natur näher sein", erläuterte Pallys. "Er war so lange gezwungen, sich wie ein Sterblicher zu verhalten, eine fleischliche Hülle zu tragen, sich auf unsere Ebene hinabzubegeben."

"He!" machte Fryyk.

"Das ist die Art, wie er die Welt sieht", beruhigte ihn das Kaninchen. "Er hält Dämonen für die überlegene Rasse. Dämonen stehen für ihn höher als alle Sterblichen. Wir sind wie Vieh für ihn. Khezzarrik weiß es besser, Khezzarrik ist schlau. Er kann unser Denken nachvollziehen und uns manipulieren, wie Beladanar es niemals konnte. Der Herr der Würmer mag seinen Verbündeten gegenüber jovial und treu erscheinen, doch hinter dieser Maske brodelt ein ungeheurer Zorn auf alle minderen Wesen - und auf die Tatsache, daß er gezwungen ist, unter diesen minderen Wesen zu leben."

"Und was bedeutet das alles?" fragte Khiray beunruhigt. Er hatte das Gefühl, daß Pallys auf sehr unangenehme Dinge hinauswollte.

Das Kaninchen sah ihn an. "Wenn du im Wald einen Bienenstock siehst und ihren Honig willst, und es sticht dich eine Biene, verfolgst du dann diese eine spezielle Biene mit deinem ganzen Zorn? Oder tötest du nicht jede Biene, die du siehst, ohne Unterschied?"

Khiray hob die Hand und zählte an den Fingern ab. "Erstens, ich plündere keine wilden Bienenstöcke, sondern überlasse das den Bienenzüchtern, die wissen, was sie tun. Zweitens, eine Biene, die einmal gestochen hat, stirbt, also ist es sinnlos, sie zu verfolgen. Drittens, ich schlage keine Bienen aus lauter Vergnügen tot. Viertens, wenn ich einen Bienenstock plündern würde, griffen mich ganze Schwärme an, und das Vorteilhafteste unter diesen Umständen ist, in den nächsten See zu springen. Fünftens..."

"Es ist doch nur eine Metapher", knurrte Pallys. "Wenn du im Wald in einen Ameisenhaufen trittst und von ihnen gebissen wirst, suchst du dann nach denjenigen Ameisen, die dich gebissen haben, um sie zu zerquetschen, oder zertrampelst du den ganzen Bau?"

Der Fuchs lehnte sich zurück. "Ich zertrample keine Ameisenhaufen, nur weil mich ein paar von ihnen beißen. Aber ich verstehe schon. Beladanar sieht uns als Ameisen; wir sind alle gleich für ihn, und sein Haß ist nicht gegen uns persönlich gerichtet, sondern gegen alle Felligen."

"Gegen alle Felligen, alle Fuchstauren, alle Men'schin; gegen alles, was auf dieser Ebene lebt", bestätigte das Kaninchen.

"Im Grunde ist das eine Beleidigung", murrte Fryyk. Kinnih nickte.

"Er ist ein Dämon." Pallys zuckte die Achseln. "Er hat uns nur deshalb bis jetzt verfolgt, weil wir Galbrens Pläne gefährdet haben. Jetzt ist alles vorbei. Er hat keinen Grund mehr, Galbren zu gehorchen, und keinen Grund, ausgerechnet uns schaden zu wollen. Er tobt, und seinem Zorn wird alles zum Opfer fallen, das in seine Nähe kommt."

"Er wird Unschuldige töten", befürchtete Kinnih.

"Sind wir Schuldige?" protestierte Fryyk, und der junge Dachs schüttelte hastig den Kopf.

"Er wird jeden töten. Alles vernichten. Mit dämonischem Zauber Tod und Verwüstung über den Armygan bringen."

"Aber die Erzengel..." Khiray breitete die Arme aus. "Du hast doch gesagt, daß sich die Dämonen versteckt halten müßten und in der Maske von Felligen ihre Pläne durchführen, weil sonst die Erzengel auf sie aufmerksam werden würden!"

Pallys nickte. "Ja. Das war vorher. Aber ich sagte doch, alles hat sich geändert... Vorher galt es, Galbrens Plan durchzuführen, der erst Galbren und dann den Dämonen zur Macht verholfen hätte. Jetzt ist das nicht mehr möglich. Selbst wenn Beladanar schon hundert Dämonen hierher gebracht hat - und das glaube ich nicht, denn Dämonen sind schwer zu kontrollieren und zufriedenzustellen, selbst für einen Dämonenfürsten -, dann sind es immer noch zu wenige für eine Armee. Mit hundert Dämonen läßt sich der Armygan nicht erobern, jedenfalls nicht in einer Weise, daß die Erzengel nicht mißtrauisch werden. Vorher versuchten Beladanar und Galbren, sich in einem Spiel um die Macht gegenseitig zu übertölpeln. Jetzt zählt nur noch die blanke Gewalt, und darin ist Beladanar ein Meister. Vorher war Galbren da, um den Herrn der Würmer im Zaum zu halten. Jetzt schippert er irgendwo auf dem Langen Lauf herum, und Beladanar wartet auf uns." Pallys holte Luft. "Alle Dinge. Nichts ist mehr wie zuvor. Das Leben ist nicht wie in einem Buch, mit einem Anfang und einer Mitte und einem Schluß, und alle Ereignisse sind hübsch verknüpft und ganz einfach aufgebaut, damit auch der unbedarfte Leser alles versteht. Nein, das Leben ist wie ein Ameisenhaufen, alles wimmelt durcheinander, und Dinge, die hier geschehen, beeinflussen Dinge, die dort passieren, und umgekehrt. Pläne und Absichten ändern sich. Die Ereignisse entsprechen manchmal nicht dem, was wir erwarten. Es ist so wie eine Fahrt Dorns Schnellen hinab: wir können das Ruder bewegen und darauf hoffen, daß das Schiff reagiert, aber in Wahrheit sind wir Kräften ausgeliefert, die wir nicht kontrollieren können."

"Figuren in einem Spiel", murmelte Khiray. "Nur daß manchmal der Spieler unsichtbar bleibt." Pallys' Fatalismus ging ihm auf die Nerven. Er wußte sehr gut, daß Bücher nur eine einfache Geschichte erzählten. Aber das Leben war nicht so viel anders, wie das Kaninchen meinte. Das Leben bestand aus tausend kleinen Geschichten, tausend Schicksalen, die sich verwoben. Es mochte ein Ameisenhaufen sein, aber jede Ameise ging einen ganz bestimmten Pfad, und alle zusammen formten etwas Neues, Größeres. Und sie taten es nicht, indem sie nur vor sich hin trotteten. Sie handelten. Vielleicht waren es die geheimnisvollen Mechanismen der Natur, die ihre Schritte lenkten, statt eines freien Willens. Aber das spielte keine Rolle. Sie handelten und formten ihre Welt.

Der Fuchs glaubte, daß auch Fellige - und Fuchstauren, und Men'schin, und was sonst noch für Wesen auf der Welt leben mochten - dazu imstande waren. Schmiede ihres eigenen Schicksals. Nicht nur Figuren, die von unsichtbaren Händen über ein titanisches Brett geschoben wurden. Manchmal mochte das stimmen, aber nicht immer.

Er hatte nicht eine Nacht in der Hölle überlebt, indem er etwas anderes glaubte. Ja, Pläne und Absichten mochten sich ändern, die Spieler wechselten, die unsichtbaren Pfade verschoben sich. Aber dennoch hielten sie noch immer ihr Leben in den eigenen Händen. Ihre Bestimmung.

"Was ist jetzt mit dem Erzengel?" wollte Kinnih ungeduldig wissen.

Pallys seufzte. "Er wird kommen. Aber er wird zu spät kommen. Beladanars Wut wird sich entladen, er wird den Fluß hinab nach Drun'kaal reisen, jedes Dorf und jede Stadt auf dem Weg einäschern und alles Leben vernichten. Die Erzengel werden auf die dämonischen Energien aufmerksam werden und nach dem Rechten sehen, aber sie werden Tage dafür brauchen. Es gibt viele Dinge, die die Erzengel beschäftigen, und ihr Auge ruht nicht in jeder Stunde auf dem Armygan. Wahrscheinlich hat Beladanar bis dahin Drun'kaal dem Erdboden gleichgemacht."

"Kein Verlust", bemerkte Pakkaht gnadenlos. "Die ganze dekadente Horde gehört sowieso ausgerottet."

Delley schüttelte den Kopf. "Wie kannst du so etwas sagen? Der Drunfürst bewahrt immerhin Recht und Ordnung. Der Hof ist vielleicht dekadent, aber es gibt viele ehrliche Handwerker und Arbeiter in der Stadt, Seeleute und Bauern. Gehören die auch alle ausgerottet?"

Pakkaht hob das Geweih. "Es macht keinen Unterschied. Andere werden kommen und die Stadt wieder aufbauen. Beladanar kann nicht den ganzen Armygan vernichten, ehe die Erzengel ihm den Garaus machen. Der Armygan hat die Dürre überlebt, als die Sümpfe zu schlammigen Tümpeln austrockneten, er hat das Fieber überlebt, als das Frischwasser knapp wurde, er hat den großen Regen überlebt, als die Flüsse weit über die Ufer stiegen und der Sumpf zu einem Meer wurde, er hat die Sturmflut überlebt, die das alte Larynedd ins Meer gerissen hat, und er hat die Raubzüge der Pharrak überlebt. Was macht es für einen Unterschied, daß die Kraft der Zerstörung diesmal ein Dämon ist?"

"Wenn du so denkst, warum bist du dann mit uns gekommen?" empörte sich Kinnih.

"Kleiner, ich wollte aus Sookandil verschwinden, weil die Stadt ein zu heißes Pflaster für mich wurde. Wenn ich geahnt hätte, daß wir gegen Dämonen kämpfen müssen, hätte ich mich vielleicht schon abgesetzt."

Pallys stellte die Ohren auf. "Wir können nicht erlauben, daß die Dämonen unsere Heimat verwüsten. Wir müssen sie aufhalten!"

"Was?" brüllte Pakkaht und sprang auf. "Du bist doch derjenige, der nicht kämpfen wollte, der aus dem Land fliehen wollte, weil es angeblich keine Hoffnung gäbe!"

Khiray horchte auf. Pakkaht hätte eigentlich Pallys' Worte nicht kennen sollen. Das war eine Sache zwischen ihm, Khiray und Saljin - und niemand sonst war eingeweiht. Hatte Pakkaht sie belauscht?

Der Hirsch war nicht der, der er zu sein vorgab. Khiray ahnte, wer sich wirklich hinter diesem Namen verbarg. Aber er schwieg und überließ es Pallys, sich selbst zu verteidigen.

"Das war vielleicht einmal", stellte das Kaninchen fest. "Entscheidend ist nur, was ich jetzt denke. Und ich glaube, daß wir den Tod so vieler Felliger nicht zulassen dürfen."

"Was für ein Unsinn!" Pakkaht setzte sich wieder hin und verschränkte die Arme. "Wir sind nicht verantwortlich für Galbrens Plan oder für die Untaten der Dämonen. Niemand hier kann etwas dafür. Wir müssen nicht ausziehen wie ein Haufen hirnloser Helden, um das Unrecht wiedergutzumachen und für Wahrheit und Gerechtigkeit zu kämpfen! Noch dazu, wo der Gegner uns so weit überlegen ist. Wir haben keine Waffe gegen Beladanar! Er wird uns in Fetzen reißen!" Dann setzte er leiser hinzu: "Euch, vielmehr. Wenn euch nichts an eurem Leben liegt, dann bitteschön, geht und kämpft."

"Vielleicht müssen wir nicht kämpfen", sagte Pallys. "Es genügt, einen Erzengel zu rufen."

"Wenn wir diese Waffen einsetzen", mischte sich Saljin ein, "werden die Erzengel vielleicht aufmerksam."

"Bis jetzt war davon nichts zu merken", wehrte Delley ab. "Ich habe nicht die Spur von Erzengeln gesehen."

"Es braucht gewaltige Kraft, um jene Orte zu erreichen, an denen die Erzengel weilen", erklärte Pallys. "Und es bedarf besonderer Künste. Gewöhnliche Magie ist dazu nicht imstande. Wenige Magier haben die Kunst studiert, denn niemand will sich den Zorn eines Erzengels zuziehen, indem er ihn ungebeten und ohne Grund ruft - und es gibt sehr selten Gründe, Erzengel zu rufen."

"Aber du beherrschst die Kunst", mutmaßte Khiray.

"Ja, ich kenne sie. Aber ich bin kein Magier, und mir stehen die nötigen Kräfte nicht zur Verfügung. Ich kann einen Erzengel rufen... doch nur an einem bestimmten Ort."

Saljin lehnte sich auf den Tisch. "Hattest du nicht gesagt, du könntest keinen Erzengel rufen?"

"Ich kann keinen Erzengel rufen." Pallys ließ die Ohren hängen. "Nicht hier, nicht in Sookandil. Es bedarf eines Ortes der Macht."

"Ich erinnere mich. Ghanzekk hat davon geschrieben." Khiray versuchte sich den genauen Wortlaut ins Gedächtnis zu rufen.

"Für jeden von uns gibt es einen ganz bestimmten Ort der Macht. Ein Ort, mit dem er auf besondere Weise verbunden ist. Ein Ort, an dem sein Schicksal eine Wende genommen hat. Manche, besonders wir Langlebigen, besitzen viele solche Orte. Ghanzekks Orte der Macht liegen weit von hier entfernt, auf einem anderen Kontinent. Meine... nun, einer von meinen ist Alvanere."

"Alvanere ist eine Ruine", wandte Pakkaht ein.

"Es soll dort spuken", bemerkte Kinnih.

"Alvanere war einmal eine blühende Stadt", erwiderte Pallys. "Aber das sind Dinge, die nichts zur Sache tun. Jedenfalls müssen wir nach Alvanere, so daß ich dort die Kräfte sammeln und einen Erzengel herbeirufen kann. Alles weitere ist dann seine Sache."

Khiray antwortete nicht. Alvanere? Dort, wo der Lange Lauf den See von Alvanere verließ, warteten die Dämonen. Der See war groß, und vielleicht übersahen die Höllenwesen die 'Silberne Ansicc', aber der Fuchs glaubte nicht daran. Das Schiff würde auch noch zwei oder drei Tage bis nach Alvanere brauchen, und Beladanar mochte bereits die Geduld verlieren und gen Drun'kaal ziehen. Aber auch das erschien Khiray unwahrscheinlich. Nein, die Dämonen würden auf sie warten, und es würde zu einem erneuten Kampf kommen. Mit Ghanzekks Stäben mochten sie sie eine Weile abwehren, vielleicht sogar ein paar Dämonen töten. Aber Beladanar ließ sich nur durch einen Erzengel aufhalten, und wenn Pallys versagte...

...oder wenn er die Unwahrheit sagte...

Khiray wußte nicht mehr, woran er bei seinem alten Lehrer war. So viele Geheimnisse, so viele Lügen. Diese neue Geschichte von den Orten der Macht und der Möglichkeit, einen Erzengel zu rufen, konnte eine neue Ausrede sein, eine neue Täuschung. Er mußte die Wahrheit hören, ehe er Pallys wieder vertrauen konnte. Die ganze Wahrheit.

"Wir legen ab", kommandierte er. "Delley, du übernimmst das Ruder. Kinnih, an die Maschinen. Fryyk, Pakkaht, Sarmeen: ihr erledigt den Rest. Wenn wir den Flußarm nach Larynedd erreicht haben, werde ich entscheiden, vorher nicht. Ich muß noch ein Wort mit Pallys wechseln."

Seine Mannschaft nickte und erhob sich geschlossen. Er sah, daß sie nicht wirklich zufrieden waren mit dieser Entscheidung - oder vielmehr der Abwesenheit einer Entscheidung. Aber sie hatten nichts Besseres anzubieten. "Und noch etwas", fügte er hinzu. "Ich würde gerne heute etwas Anständiges essen. Ohne Shooshun haben wir leider auch niemanden mehr, der einigermaßen kochen kann..."

"Ich koche", erklärte sich Pakkaht bereit. "Eines meiner Talente."

Khiray nickte und schloß die Tür hinter ihm. Dann setzte er sich wieder zu Pallys und Saljin an den Tisch. "Und jetzt will ich alles wissen."

Das Kaninchen malte mit dem Finger unsichtbare Kreise auf die Tischplatte. "Alles?"

"Alles. Alles über die Dämonen, über die Orte der Macht, über Alvanere und Ghanzekk."

Pallys seufzte. "So sei es. Vielleicht hätte ich es dir von Anfang an erzählen sollen, mehr Vertrauen zu dir haben... aber nach vierzehntausend Jahren des Verrats, der Täuschungen und der Lügen sind derlei Dinge manchmal etwas schwer." Er schloß die Augen, und für einen Moment glaubte Khiray sein ungeheures Alter sehen zu können - die Jahrtausende, die auf Pallys' Geist lasteten.

Dann begann das Kaninchen zu erzählen.


Ende von Kapitel Zwanzig