Kapitel Neunzehn


Ein Ort der Dunkelheit.

Khiray trieb durch die Finsternis und bemühte sich, sich nicht zu erinnern. Es gelang ihm überraschend gut. Der Friede, den ihm das allumfassende Nichts schenkte, vertrieb den Schmerz und die Gedanken. Im Schweigen fühlte er sich geborgen wie seit langer Zeit nicht mehr. Es gab hier keine Zweifel, keine Ängste und kein Leiden.

Im Grunde war es sehr schön hier. Der Fuchs sah keinen Grund, den Ort der Dunkelheit zu verlassen. Er wußte auch nicht recht, wie.

Natürlich gab es auch sonst nichts in der Finsternis - nur ihn selbst und die verschwommene Erinnerung an das, was er einmal gewesen war.

Er war sich nicht ganz sicher, wie er hierher gelangt war. Oder wann. Oder warum.

Besonders warum.

Das Warum gehörte zu den Dingen, die er vergessen wollte. Der Schatten eines sehr bösen Wesens lag auf dieser Erinnerung. Es wollte ihn zerstören. Es hatte sich redlich Mühe gegeben, in verschiedenen Gestalten. Eine davon war einmal seine gewesen. Vor dem Ort der Dunkelheit. Hier und jetzt gab es keine Gestalt mehr. Eine andere Gestalt hatte einmal eine besondere Bedeutung besessen. Khiray konnte sich nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war, aber es hing mit dem Ort der Dunkelheit zusammen.

Irgendwie.

Aber es lohnte sich nicht, darüber nachzudenken. Nachdenken bedeutete Erinnern. Erinnern war Schmerz. Er zog es vor, in der Dunkelheit zu treiben und sein Bewußtsein zerrinnen zu lassen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der letzte Rest der Erinnerung vergangen war. Und irgendwann würde auch die schwache Verbindung zu der Gestalt - zu dem alten Selbst, der früheren Form - abreißen, jene Verbindung, die noch immer an ihm nagte und ihn quälte. Seine Seele war fortgegangen, um an dem Ort der Dunkelheit zu leben. Die frühere Form konnte nicht lange ohne sie existieren. Sie würde erlöschen, und mit ihr alles, was einmal Khiray gewesen war.

Erst dann wäre der Friede vollkommen.

* * *

Der steinerne Koloß stampfte langsam durch die Häuserreihen. Die Bären starrten ihn mißtrauisch an, aber sie unternahmen nichts gegen ihn. Sie stellten nicht einmal Fragen. Saljin war froh darüber. Sie fühlte sich nicht dazu imstande, jetzt irgendeine Frage zu beantworten. Glücklicherweise waren die Bären sehr zurückhaltend, selbst jetzt, da eine Gestalt durch ihre Stadt wandelte, die sie nur aus Geschichten kannten und die selbst auf die kräftigen, kampfstarken Felligen unheimlich wirken mußte.

Es war ihr nichts anderes übriggeblieben, als die Trolle erneut um Hilfe zu bitten. Khiray war noch immer nicht aus seiner Abwesenheit erwacht, und sie konnte ihn unmöglich die ganze Strecke tragen, selbst wenn sie Ghanzekks Waffen zurückgelassen hätte, was sie nicht wollte. Khiray war nicht viel leichter als sie, und ihre Vorderpfote war nicht voll belastbar.

Der Troll hatte sofort zugestimmt. Es schien fast, als seien die Trolle darüber beschämt, daß sie ihr gegen Khezzarrik nicht beigestanden hatten. Sie waren dem Dämon hoffnungslos unterlegen und hatten daher gar nicht erst eingegriffen. Doch Mut und Loyalität waren Konzepte, die auch den Steinwesen nicht fremd waren, und in ihren eigenen Augen hatten sie beide verletzt. Saljin machte ihnen keinen Vorwurf; ein Eingreifen hätte nur ihre Vernichtung nach sich gezogen. Aber die Trolle schienen ihr Verhalten als Versagen zu beurteilen und waren erpicht darauf, es wenigstens zum Teil wiedergutzumachen.

Khiray nach Bärenberg zu tragen bedeutete für den Troll, gesehen zu werden, ja, die ganze Rasse der Trolle den Bären zu offenbaren, nachdem sie so lange versteckt gelebt hatten. Aber dennoch hatte der Troll keine Sekunde gezögert. Saljin fand es sehr schwierig, in den Gesichtern von Wesen zu lesen, die eigentlich keine Gesichter hatten, aber sie war sich sicher, darin Bestürzung und Trauer zu erkennen.

Der Troll hatte den ganzen Weg über kein Wort gesprochen, und er erhob auch in Bärenberg kein einziges Mal seine Stimme. Mochte er für die Bären ein Rätsel bleiben - bis zu dem Zeitpunkt, wo die Trolle sich letztlich freiwillig vorstellen würden. Saljin hatte keine Zeit und keine Lust, die Zusammenhänge dem obersten Bären oder sonst jemandem zu erklären.

Die halbe Mannschaft der 'Silbernen Ansicc' kam ihr auf dem Weg durch die Stadt entgegen. Kinnih starrte die riesige Gestalt des Trolls hinauf und sagte kein Wort.

"Was ist geschehen? Wo wart ihr so lange? Was ist mit Khiray?" Pallys schien durch den Troll weniger überrascht. Entweder er hatte mehr über die Steinwesen gewußt, als ihre eigene Geschichte ihm verraten hatte, oder sein langes Leben hatte ihn unempfindlich gegen Überraschungen gemacht.

"Ich erzähle davon später", gab Saljin brüsk zurück. "Wir müssen ablegen."

"Werdet ihr verfolgt?" fragte Delley besorgt. "Soll ich einen Arzt für Khiray holen?"

Die Fuchstaurin bezweifelte, daß ein Arzt das Richtige wäre. Sie hatte Khiray genauestens untersucht. Vielleicht würden einige seiner Schnittverletzungen Narben hinterlassen, aber sie würden heilen. In dieser Hinsicht hatte der Dämon Wort gehalten: Nichts von dem, was er Khiray angetan hatte, würde ihn verstümmeln oder für immer schädigen. Jedenfalls seinen Körper.

Sie war sich auch nicht sicher, ob Khiray es gutheißen würde, wenn ein Arzt ihn untersuchte. Sie war sich darüber im Klaren, was Khezzarrik mit ihm angestellt hatte - und sie ahnte, wozu seine Kräfte den Fuchs gezwungen hatten. Nichts von alldem ging einen Arzt etwas an. Neugierige Fragen waren das letzte, was Khiray brauchte.

Auch wenn er sie wahrscheinlich nicht hören konnte.

"Wir werden nicht verfolgt. Hier, nimm die Stäbe." Sie ließ das Gestell mit den magischen Utensilien fallen. "Und vergiß den Arzt. Wir legen ab, sobald alle an Bord sind." Wie selbstverständlich übernahm sie das Kommando. Sie hatte zwar keine Ahnung von der Flußfahrt, und es bestand im Moment eigentlich auch kein Grund zur Eile, aber sie wollte diese Stadt hinter sich lassen. Und wußte sie denn genau, ob sie dem Dämon trauen konnten?

Kurz vor dem Hafen übergab der Troll ihr Khiray, drehte sich um und ging wortlos davon. Die Bären sahen ihm nach, und wahrscheinlich überwachten versteckte Patrouillen das Steinwesen auf seinem Weg in die Wälder.

Kinnih bestaunte den Troll, bis er zwischen den Häusern verschwunden war. Dann drehte er sich zu Khiray um. "Kapitän! He, Kapitän!"

"Er kann dich nicht hören", stellte Saljin fest und trug den Reglosen auf das Schiff. Er war schwer - und schwerer zu tragen als ein gänzlich Bewußtloser. Die Last in ihren Armen fühlte sich an wie ein Stein. Tot und seelenlos.

"Was ist denn nur geschehen?"

"Dämonen", sagte sie knapp und schleppte den Fuchs in seine Kabine. Delley immerhin gehorchte ihrem Befehl. Nach kurzer Zeit liefen die Maschinen, und die 'Silberne Ansicc' legte ab. Saljin hatte keine Ahnung, was Pallys den Bären erzählte. Als sie an Deck kam, lag der Kai bereits hinter ihnen. Sie konnte Shooshun sehen, der zwischen den Bären und Ottern stand.

Niemand winkte ihnen zum Abschied. Nicht einmal der alte Kater. Khirays Anblick hatte allen klargemacht, was auf dem Spiel stand - und welches Schicksal sie erleiden würden, wenn sie versagten. Niemand außer ihr wußte, daß Khirays Opfer dieser Stadt, und vielen anderen, die Rettung praktisch bereits erkauft hatte. Beladanar und Galbren waren gescheitert, und der Armygan würde überleben.

Zumindest hoffte sie das.

Es kam allein darauf an, wie beharrlich Galbren war und was der Dämonenlord nun tun würde. Sie war kein Stratege, und sie kannte die Lage im Land nicht gut genug, um die Zukunft einschätzen zu können. Alles war ungewiß geworden. Und Khezzarrik mochte sich immer noch eines Besseren besinnen und den Pakt brechen.

Sie versammelten sich auf dem obersten Deck, so daß Delley das Ruder führen und ihr dennoch zuhören konnte. Saljin wollte diese Geschichte kein zweites Mal vortragen müssen. Pallys, Delley, Kinnih. Pakkaht, Fryyk, Sarmeen. Selbst wenn sie Khiray mitzählte, waren sie nur noch zu acht. Acht Fellige gegen alle Dämonen, die Beladanar mitgebracht hatte. Das mochten drei oder vier sein, nachdem Hhrugha und die Bären tot waren, aber ebensogut konnten es fünfzig sein. Und das Wichtigste war, daß sie keine Waffe gegen Beladanar selbst besaßen.

Es fiel ihr unsäglich schwer, von ihren Erlebnissen zu berichten. Sie ließ gewisse Details aus, die niemanden etwas angingen, und selbst so war es schlimm genug. Ganz, als müßte sie alles noch einmal erleben.

Niemand unterbrach sie. Selbst als sie geendet hatte, sagte keiner ein Wort, bis Delley bemerkte: "Verflucht seien die Schicksalsgötter."

"Götter haben damit nichts zu tun", grollte Pallys. "Nur Dämonen. Nur die Dämonen."

Pakkaht schien von allen Anwesenden am wenigsten betroffen. Er hatte Khiray ja auch kaum gekannt und war nicht gerade aus Begeisterung für die Sache an Bord. "Die Dämonen können uns also nicht mehr aufspüren?"

Saljin schüttelte den Kopf. "Jedenfalls können sie uns nicht mehr erreichen. Ich kenne das Ausmaß ihrer Magie nicht. Es ist möglich, daß sie trotzdem wissen, wo wir sind, und vielleicht versuchen werden, uns abzufangen."

Fryyk meldete sich zu Wort. "Das haben sie nicht nötig, oder? Es gibt von hier aus nur zwei große Wasserstraßen nach Süden. Die eine nach Larynedd wird von Galbrens Soldaten gehalten, die andere nach Drun'kaal von den Dämonen."

"Sofern Khezzarrik die Wahrheit gesagt hat", warf Pallys ein.

Fryyk winkte ab. "Er hatte keinen Grund zu lügen, eher einen, die Wahrheit zu sagen. Im Grunde liegt es in seinem Interesse, Beladanar vernichtet zu sehen. Der Herr der Würmer könnte sonst doch noch einen Weg zurück in die Hölle finden..."

Saljin erhob sich. "Ich sehe nach Khiray." Für sie stand fest, daß Khezzarrik nicht gelogen hatte. Fryyk hatte recht: Ex-Tor konnte es sich nicht leisten, daß Beladanar diese Ebene jemals wieder verließ. Und wenngleich der Wortlaut des Pakts es den Höllenbewohnern praktisch verbot, jemals wieder Tore zu öffnen, so mochte es doch ebensogut hier Magier geben, die dasselbe vollbringen konnten. Wenn Beladanar auf dieselbe Idee kam und sich mit einem solchen Magier verbündete, konnte er vielleicht doch heimkehren - und Khezzarrik für seine Intrige bestrafen.

So sehr sie den Gedanken haßte, daß Beladanar in dieser Welt noch mehr Verbündete finden konnte als nur Galbren, und daß er mit seinen Machtgelüsten davonkommen konnte - so sehr gefiel ihr die Vorstellung, daß Khezzarrik für seine Grausamkeit bezahlen würde. Ex-Tor war der Gewinner in diesem Spiel, noch ehe es wirklich beendet war. Er hatte alles erreicht, alles gewonnen, und er hatte keine Konsequenzen zu befürchten.

Andererseits würde Beladanar ihn nur deshalb bestrafen, weil er ihn verraten hatte. Khirays Schicksal war dem Herrn der Würmer vollkommen gleichgültig, ja, er hätte nicht gezögert, dem Fuchs dasselbe anzutun, nur um seinen dämonischen Appetit zu stillen. Was immer geschehen würde, wahre Gerechtigkeit konnten sie nicht finden. Sie konnten nur ihr Leben und ihren Verstand retten...

"Ich komme mit", sagte Kinnih.

Die Fuchstaurin musterte den jungen Dachs. Er verehrte Khiray. Sie war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, ihn seinen Kapitän in diesem Zustand sehen zu lassen. Aber es war ohnehin zu spät, und sie war sich über so viele Dinge nicht sicher, daß es auf einen Fehler mehr oder weniger auch nicht ankam. "Wie du willst." Sie konnte Hilfe gebrauchen. Sie fühlte die Müdigkeit in jedem Knochen, aber sie konnte Khiray nicht so einfach liegenlassen, mit all dem Blut und Dreck in seinem Fell. Wenigstens soviel konnte sie noch für ihn tun.

Sie kehrten in Khirays Kabine zurück. Der Fuchs hatte sich nicht ein Stück gerührt. "Kannst du Wasser heißmachen?" fragte sie Kinnih.

"Wir haben Wannen im Baderaum", entgegnete der Dachs. "Medizin auch, und Verbände..." Er musterte seinen Kapitän. Verbinden half da wohl auch nicht viel - kaum ein Teil seines Körpers war Khezzarriks Messern entgangen. Aber die Wunden waren bereits geschlossen, selbst die, die Saljin zuvor noch recht tief erschienen. Verwundert untersuchte sie Khiray. Ja, die Wunden heilten mit rasender Geschwindigkeit, als sei ein Zauber am Werk. Pallys? Nein, das Kaninchen war die ganze Zeit über in ihrer Nähe gewesen, und er schien auch keine Heilzauber bei sich zu haben. Khezzarrik? Kaum; der Dämon scherte sich nicht um Khirays Gesundheit. Es lag natürlich nahe, daß Khezzarrik sein nützliches Werkzeug nicht zu sehr beschädigen wollte, wenn er hoffte, daß Beladanar vernichtet werden würde. Aber ein Heilzauber sah dem Dämonen so unähnlich, daß sie den Gedanken wieder verwarf.

Die Trolle! Natürlich. Sie waren die einzigen magie-begabten Wesen in der Nähe - es sei denn, die Bären besaßen heimlich Magier. Und d ie Trolle hatten auch einen Grund, ihr zu helfen.

Probehalber schüttelte sie ihre verletzte Pfote. Tatsächlich - der Schmerz war vergangen; sie konnte das Bein wieder ganz normal belasten. Unbemerkt hatte die Trollmagie ihr Werk getan.

Aber das genügte nicht. Nicht, solange Khirays Geist irgendwo am Rande des Wahnsinns umherirrte.

Doch was sollte sie tun?

Gemeinsam trugen sie Khiray in den Baderaum. Fryyk hatte ihn kurz erwähnt, aber nicht gezeigt, und Saljin war zu beschäftigt mit ihren eigenen Gedanken gewesen, um sich ein Bad zu bereiten. Wasser hier auf das zweite Deck zu schleppen und zu erhitzen war ihr zu aufwendig erschienen. Warum bloß befand sich der Baderaum nicht auf dem untersten Deck? Da Fuchstauren, genau wie die meisten Felligen, nicht schwitzten, benötigten sie seltener ein Bad als etwa Men'schin, also hatte sie darauf verzichtet.

Jetzt sehnte sie sich danach - ein paar Minuten in heißem Wasser zu verbringen und all die schwarzen Gedanken einfach zu vergessen. Aber es würde anstrengend genug sein, ein Bad für Khiray aus dem Fluß zu schöpfen.

Der Baderaum war nicht besonders groß und enthielt auch nicht viel mehr al s zwei Wannen - groß genug für sie selbst, wie sie sehnsüchtig erkannte, und leider mit einem exorbitanten Fassungsvermögen. Hinter den Wannen befand sich ein Gestell aus Rohren mit zahlreichen Rädchen und Hebeln. Eine Wand besaß ein Fenster - natürlich, man mußte ja irgendwie die Eimer zum Fluß hinablassen können -, die gegenüberliegende Wand zierte ein Schrank, der eine Anzahl sauberer Handtücher und verschiedene Badeessenzen enthielt.

Sie setzten Khiray auf dem Boden ab, und Saljin sah sich im Raum um. "Wo sind die Eimer?"

"Eimer?" Kinnih gab sich verwirrt. "Wozu Eimer?"

"Um Wasser zu schöpfen natürlich!" Die Fuchstaurin wies ungeduldig auf die Wannen. "Ein bißchen Wasser ist nämlich notwendig für ein Bad! Und wo macht man das Wasser hier heiß?" Sie hatte den Verdacht, daß heißes Wasser gar nicht vorgesehen war.

"Oh", machte Kinnih und trat kopfschüttelnd an das Rohrgestell. Er schwenkte ein Rohr über die Wanne und betätigte einen Hebel und ein Drehrad. Im Inneren des Gestells gurgelte etwas. "Wir brauchen kein Wasser zu schöpfen. Die Maschinen betreiben auch schiffsinterne Pumpensysteme. Hier, dieser Hebel reguliert die Pumpstärke. Dieses Rad öffnet das Ventil für heißes Wasser, und dieses das für kaltes Wasser. Die Hitzeschleife erhitzt das Flußwasser auf dem Weg nach oben. Auf einem Dampfer herrscht nie Mangel an Heißwasser."

Saljin starrte mit großen Augen auf das Rohrsystem. Wasser sprudelte aus dem Ende des Schwenkrohres. Ungläubig hielt sie die Hand darunter. Es war warm. Warmes Wasser ohne jede Mühe - einen derartigen Luxus kannte sie nicht einmal vom Goldenen Ufer, wo man sich schon einige Extravaganzen leistete. Für ein Volk, das einen Großteil des Jahres nomadisch lebte, verbot es sich von selbst, große Maschinen oder Ausrüstung für so etwas Nebensächliches wie ein heißes Bad mitzuschleppen, und in den Dörfern, die nur ein paar Monate bewohnt wurden, gab es keinen Platz für komplexe Dinge, die der Wartung und Pflege bedurften. Wenn man ein heißes Bad im Winter wollte, mußte man sich ein Feuer machen und Wasser vom Fluß holen. Während der Wanderungen waren heiße Bäder mangels Wannen so gut wie unmöglich, außer man fand eine heiße Quelle.

Einrichtungen wie dieser Baderaum übertrafen ihre Vorstellungen von Luxus. Kabinen mit Betten, Regale mit Büchern, all diese kleinen Dinge, die sich überall verstauen und mitführen ließen, die bloße Tatsache, daß man mehr Gegenstände um sich hatte, als man tragen oder ziehen konnte - all das war bereits Teil des bequemen Winterlebens für ihr Volk. Aber heißes Wasser, ein Bad, das sich praktisch von selbst bereitete - das grenzte ans Phantastische.

Kinnih sah sie fragend an. "Aber die Toiletten haben doch auch... Oh." Ihm schien soeben klarzuwerden, daß ihre Anatomie es ihr praktisch unmöglich machte, die auf Zweibeiner ausgelegten Toiletten zu benutzen. Sie konnte ihm ansehen, daß er sich fragte, wie sie denn... aber natürlich wußte er, wie man derlei Dinge auf weniger luxuriösen Schiffen handhabte.

Dennoch kam sie sich ertappt und ein bißchen unsauber vor. Nicht, daß sie anderes Wasser zum Waschen benutzt hätte; ob es aus Rohren kam oder aus einem Eimer, spielte wohl keine Rolle. Und die Toiletten entleerten ihren Inhalt auch in den Fluß - was sonst sollten sie tun? Aber dieses Schiff schien so viel zivilisierter durch seine Einrichtungen.

Um die Situation zu überspielen, fischte sie verschiedene Bademittel aus dem Schrank und entzifferte die Aufschrift. Sie sprach die Sprache des Armygan fließend, aber die Schrift war etwas, das sie nicht allzu oft anwenden mußte. Dek war besser darin. Besser darin gewesen. Sie seufzte.

Zu zweit konnten sie Khiray leicht über den Wannenrand heben. Das Wasser war angenehm warm und duftete nach Seife. Es dauerte eine ganze Weile, das verkrustete Blut aus dem Fell des Fuchses zu lösen, aber schließlich entspannte sich sein Körper und schwamm schlaff im Wasser. Das machte die Arbeit etwas leichter. Saljin hoffte, daß es ein gutes Zeichen war und nicht nur tödliche Erschöpfung.

Kinnih holte etwas Medizin, aber sie konnten es Khiray nicht einflößen - der Fuchs weigerte sich zu schlucken. Er benötigte Wasser - niemand konnte lange überleben, ohne zu trinken. Doch alle Versuche waren vergebens. Solange nicht wenigstens etwas Überlebenswille in den geschundenen Körper zurückkehrte, konnten sie nichts für ihn tun.

Der Dachs bezog Khirays Bett mit frischen Decken, und sie wickelten den Fuchs darin ein. Er mußte aus eigener Kraft zu ihnen zurückkehren. Dann erst bestand Grund zur Hoffnung. Bis dahin...

Sie ließ sich selbst ein Bad ein und gebot Kinnih, auf seinen Posten an Delleys Seite zurückzukehren. Das heiße Wasser war eine Wohltat. Ob häufiges Baden dem Fell schadete? Wahrscheinlich; die Seife wusch die natürlichen Fette von den Haaren und beraubte sie damit ihres Schutzes. Aber im Moment kümmerte es sie nicht.

Sauber und erfrischt, aber immer noch müde, suchte sie Khirays Kabine auf. Sie hatte ihren eigenen Raum - oder vielmehr, sie hatte ihn gehabt, denn der Felsen, mit dem das Schiff auf Dorns Schnellen zusammengestoßen war, hatte diese Seite stark beschädigt und ein Loch in diesen Raum gerissen. Aber an Khirays Seite fühlte sie sich ohnehin im Moment wohler.

Vielleicht konnte sie ihn wenigstens vor den Träumen schützen. Er hatte immerhin ein Traummesser. Für jemand anderen Traumschnitzereien zu fertigen, war nicht so wirkungsvoll, wie seine eigenen herzustellen, aber sie hatte eine gewisse Vorstellung, was Khiray an ihrer Stelle getan hätte.

Es war nicht ganz einfach, schnitzfähiges Holz aufzutreiben, aber Delley fand schließlich ein paar ausreichend weiche Blöcke. Mit ihrer Beute kehrte sie zu Khiray zurück, legte sich neben ihn auf das Bett und begann die Arbeit. Die meisten Angehörigen ihres Volkes beherrschten die Schnitzkunst zumindest in groben Zügen - schon, weil man sich gewöhnlich seine eigenen Traumschnitzereien schuf, aber auch, weil die langen Winterabende mit Training und Geschichten und der Herstellung nützlicher Dinge für den Sommer nie ganz ausgefüllt waren. Saljin war nicht besonders gut darin, aber für ihr Vorhaben genügte es. Wichtig war nicht die Form, die am Ende dabei herauskam. Wichtig war der Zauber, der die Gedanken verknüpfte. Wichtig war die Idee, das Gefühl, die Magie, die im Holz erweckt wurde. Diese waren es, die in die Träume vordrangen.

Hoffentlich konnten diese Traumschnitzereien selbst in die Dunkelheit vordringen, in der sich Khiray nun aufhielt. Es gab Grenzen, selbst für einen so uralten Zauber wie diesen.

Dek. Du bist jetzt mein Bruder, hatte er zu Khiray gesagt. Wohin du auch gehst, mein Geist wird dich begleiten...

Auch in die Nacht jenseits der Träume? Ja, natürlich. Dek von den Tausend Feinden würde nicht davor zurückschrecken. Vier Beine, ein buschiger Schwanz, eine Waffe in den Händen. Saljin versuchte die Gesichszüge etwas genauer zu treffen, aber mehr als eine Andeutung von Schnauze und Ohren konnte sie nicht herausarbeiten. Nun, egal. Sie stellte die grobe Figur auf den kleinen Tisch neben Khirays Schlafstelle.

Wen würde sich Khiray noch an seiner Seite wünschen? Seine Mutter vielleicht - wie war ihr Name gewesen? Ayashlee. Er hatte sie nur kurz erwähnt, und Saljin kannte kein Bild von ihr. Eine Füchsin, mit den Zügen Khirays... Arme ausgestreckt, um ihren Sohn vom Rand der Finsternis zurückzuziehen. Das Traummesser glitt wie von selbst durch das Holz. Die Fuchstaurin begutachtete das Ergebnis erstaunt. Es sah viel besser aus, als sie erwartet hatte. Khiray mochte nicht an die Macht der Traumschnitzereien glauben - oder besser, er verstand gar nichts davon. Sie gab sich in dieser Hinsicht keinen Illusionen hin: er hatte das Traummesser nicht gekauft, weil er um dessen Bedeutung wußte oder weil er dessen Heiligkeit respektierte. Er hatte es gewollt, weil es eine Klinge aus Trollstahl besaß. Aber selbst wenn er die Traumkräfte nie selbst erfahren hatte, so hatte er doch das Messer immer bei sich getragen, und es war auf sein Selbst eingestimmt.

Eine Seite für die guten Träume. Eine Seite für die bösen Träume. Eine Klinge, um das eine vom anderen zu trennen. Ein Messer, das nicht Holz schnitzt, sondern Träume. Traumschnitzereien, die das Traumreich durchwandern und den Träumer vor den Schrecken der Finsternis bewahren. Traumschnitzereien, die für ihn die Wunder der Träume aufsammeln und ihn an die geheimnisvollen Orte tief in seiner eigenen Seele begleiten.

Sie sprach die alten Worte in ihrer eigenen Sprache, während sie an der dritten Figur arbeitete. Etwas, um ihn vor den Dämonen zu schützen... ein Troll. Holz zu Stein. Das Grobe und Unfertige in der Struktur schien gut zu dem Troll zu passen. Die fertige Schnitzerei strahlte eine ruhige Macht aus.

Als sie fertig war, schmerzte ihre Hand von der ungewohnten und langen Arbeit. Aber sie hatte das Gefühl, noch nicht fertig zu sein. Traditionell waren zwei bis fünf Schnitzereien üblich, um den Schlafenden zu geleiten. Doch in diesem Fall schienen drei nicht genug. Sie konnte ihre Kraft bereits spüren, aber Khirays Träume waren viel dunkler als die eines Kranken oder eines Kindes. Der Fuchs befand sich jenseits der Alpträume. Drei waren zu wenig. Vier mußten es sein, um den ganzen Weg hinabsteigen zu können.

Aber wen sollte die vierte Schnitzerei darstellen? Seinen Vater? Nein, das hatte wenig Zweck, wenn seine Mutter bereits fertig war. Delley? Die Ratte war sein bester Freund, und sein Lehrmeister. Aber Delley war zynisch und glaubte wahrscheinlich nicht an die Traumkraft. Khiray würde das merken. Pallys? Das Kaninchen hatte bei ihrem Volk gelebt und kannte seine Traditionen. Doch das Verhältnis zwischen Khiray und Pallys war gespannt. Der Fuchs würde seinem alten Lehrer nicht mehr bedingungslos folgen. Verdammnis! Sie wußte einfach nicht genug von Khiray. Wen mochte er in seinem Traum erwarten? Jemand, dem er vertraute. Jemand, der ihm den Weg zeigen konnte.

Plötzlich wußte sie es. Sie nahm ein weiteres Stück Holz und begann die letzte Schnitzerei. Das Messer gehorchte ihren Fingern auf unnachahmliche Weise und schälte die verborgene Form aus dem Holz heraus. Vier Beine. Zwei Arme. Keine Waffe, sondern die Hände schützend um einen unsichtbaren Freund gelegt. Ihr eigenes Gesicht.

Ihr Blick wanderte zu der kleinen Statue hinauf, die noch auf Khirays Regal stand. Natürlich konnte sie ihr Werk nicht mit dem des großen Meisters vergleichen - Charizoon vom Ewigen Holz. Aber für ihren Zweck mußte es genügen.

Wie seltsam. Sie konnte sich nicht erinnern, daß jemals zuvor jemand ein Abbild von sich selbst als Traumschnitzerei geschaffen hatte. Noch dazu für die Träume von jemand anderem.

Sie stellte die vierte Figur zu den anderen. Der Zauber trug die Schnitzereien in die Träume hinein. Traum zu Traum. Eine Klinge, um die guten und die bösen Träume zu scheiden.

Es war noch heller Tag, und sie hatte heute noch nichts gegessen. Doch die Müdigkeit war überwältigend. Sie schlang Arme und Beine um Khiray. Der Fuchs wehrte sich jedenfalls nicht... aber er reagierte auch sonst nicht auf die Berührung. Sein Fell war vom Baden flauschig weich, und sein eigener Geruch war fast völlig überdeckt durch die Duftstoffe der Seife. Saljin streichelte ihn sanft. "Komm zurück, Khiray. Khiray vom Fluß, komm zurück in diese Welt... and diesen Platz." An meine Seite, dachte sie, aber sie sprach es nicht aus. Dann war sie eingeschlafen.

Irgendwo in der Finsternis glitten vier geschnitzte Träume durch die Nacht und suchten die Spur eines Fuchses, der in der Dunkelheit verloren war.

* * *

Die Rückkehr der Körperlichkeit war eine fast schmerzhafte Erfahrung. Das Dunkel wurde durchbrochen und sein freier Geist gehüllt in schwaches Fleisch. Er schüttelte sich vor Abscheu. So nahe war er an der vollkommenen Befreiung gewesen, und nun... Arme. Beine. Ein Kopf. Ein Körper. Jedes Körperteil trug die Erinnerung an Mißhandlung mit sich. Nein, das war etwas, das er nicht benötigte.

Aber es machte keinen Unterschied, ob er die Augen geschlossen oder geöffnet hatte. Der Körper blieb, und mit ihm ein Oben und Unten, ein Innen und Außen, das er hinter sich gelassen zu haben glaubte.

Er stand auf einer schwarzen Ebene unter einem schwarzen Himmel. Das lockende Nichts war weit vor ihm; so weit, daß er es nicht einmal mehr vor seinem geistigen Auge sehen konnte. Dabei hatte er es fast schon erreicht gehabt! Welche Kräfte betrogen ihn nun wieder um die Erlösung?

Warmes Wasser wogte um sein Fell. Hände berührten ihn... Er verschloß sich gegen diese Empfindungen, ehe sie vollends zu ihm durchbrechen konnten. Da waren Stimmen, aber so weit weg, daß er nur ein Wispern wahrnahm.

Nein. Nein. Nein.

Ich habe keinen Namen, dachte er. Ich bin ein Geist, ein Schatten, ein Nichts.

Er wußte, daß ihm gegenüber etwas lauerte, auf der anderen Seite des wohltuenden Nichts. Eine ganze Welt mit blendendem Licht, Geräuschen, Gerüchen, Empfindungen... Schmerzen. Und dem Gelächter von Dämonen, die ihn betrachteten wie ein kurioses Ausstellungsstück. Deren Hunger an ihm saugte, während Khezzarrik...

Nein. Keine Namen. Es gab keinen Khezzarrik. Es gab nur das Nichts, das geduldig darauf wartete, daß er eintraf. Er begann zu laufen, um möglichst viel von der schwarzen Ebene hinter sich zu bringen. Zwischen sich und der Welt. Der Erniedrigung. Den Stimmen.

Je weiter er kam, um so leiser wurden die Geräusche, bis sie endgültig verschwanden. Auch das Gefühl des Wassers war fort. Seine Arme und Beine wurden taub.

Gut.

Ein fahles Licht begann die Ebene zu erhellen. Der Himmel wurde grau statt schwarz, und er konnte wieder sehen. Glücklicherweise war der Anblick tröstlich. Außer der Ebene und dem Himmel und dem fernen - noch immer schwarzen - Nichts gab es keine Struktur, keine Gestalt, nichts, das ihn stören

(verletzen)

konnte. Er sah an sich herab und stellte fest, daß er keinen Schatten warf. Da waren auch keine Schnitte in seiner Haut, keine

(Nadeln)

Dinge außer ihm selbst. Er versuchte sich zu konzentrieren. Keine Erinnerung. Nur das Nichts. Er atmete ein. Nichts. Er atmete aus. Nichts. Und die Schwärze schien schon viel näher.

Ohne zu ermüden, rannte er weiter. Erst wenn diese graue Dämmerung hinter ihm versank, erst wenn die Schwärze diese Zwischenwelt verschlungen hatte, würde ihm der Frieden wieder zuteil werden.

(Khiray)

Es mußte ein Echo sein. Das Echo seiner lautlosen Schritte. Er hörte nicht wirklich etwas. Schon gar nicht

(seinen Namen)

diese seltsamen Laute. Nur ein Echo. Er lief schneller, doch die Stimme blieb. "Khiray!" Zu laut, zu deutlich. Sie kam nicht aus der "wirklichen Welt", wo immer diese sein mochte. Sie entsprang der Ebene selbst.

Der glatte Boden verformte sich vor ihm, wölbte sich auf, bildete eine Gestalt. Aus der grauen Masse schälte sich eine Form heraus, die er kannte.

"Dek?" Er sprach, ehe er denken konnte - und wünschte sich, er hätte geschwiegen. Zu spät: er hatte die Stille durchbrochen und der Form vor sich einen Namen gegeben.

"Bruder!" Der Fuchstaur umarmte ihn mit der Waffe in der Hand. Das Gefühl auf seiner Haut ließ Khiray zurückweichen. Es gab kein Gefühl. Es gab kein Sehen. Es gab keinen Dek -

"Du mußt mit mir kommen", sagte Dek. "Dies ist kein Ort für die Lebenden."

Lebenden? Das Konzept schien vertraut. So vertraut wie die Namen Dek und Khiray. Khiray war sein eigener Name. Der Name dieses Körpers. Der Name der Schmerzen. Nein, er wollte nicht zurück. Er wollte seinen Weg in die Unwirklichkeit fortsetzen. Die Lebenden? Die Lebenden gingen ihn nichts an.

"Wenn ich mich nicht irre, bist du auch tot", erwiderte er. Da war eine weitere Erinnerung: er hatte Dek sterben sehen. Damals. Als er selbst noch zu "den Lebenden" gehörte. Durch die Dämonen...

Dämonen. Er ging an Dek vorbei und begann zu laufen. Dämonen. Gerade ihnen wollte er entkommen. Aber der Fuchstaur holte ihn ein und hielt mühelos Schritt. "Wohin willst du?"

Khiray deutete auf das Nichts. "Dorthin."

"Keine gute Idee. Da bist du schon gewesen. Fast hättest du den Kontakt ganz verloren."

"Das war meine Absicht." Er blieb stehen. Wenn Dek mit ihm redete, schien er nicht von der Stelle zu kommen. So, als sorgten Worte dafür, daß er sich erinnerte. Und wenn er sich erinnerte, lief er auf der Stelle. Oder sogar rückwärts. Er mußte diese lästige Gestalt loswerden. "Verschwinde endlich. Du störst mich."

"Ich bleibe", sagte Dek. "Ich bin ein Traum. Ich wurde geschickt, um dich abzuholen." Er deutete in die Richtung der "wirklichen Welt".

Khiray machte den Fehler, seiner Geste mit den Augen zu folgen, und bereute es sofort wieder. Die "wirkliche Welt" brannte wie Feuer. Dort hatte er keinen Platz mehr. "Nein!"

Dek hob hilflos die Schultern. "Ich werde bleiben. Ich gehe nirgendwohin."

Der Fuchs setzte sich auf den Boden. "Ich auch nicht." Wenn er schon nicht vorwärtskam, dann würde er jedenfalls dafür sorgen, daß er nicht weiter zurückrutschte.

Die Ebene dehnte sich abermals und spie eine neue Figur aus. Es war eine Füchsin, hochgewachsen und schlank, mit einem roten Tuch um die Stirn. Ein imaginärer Wind zerrte an ihrer Kleidung. Khiray konnte sich vorstellen, wie sie auf dem Deck eines Schiffes stand und über den Fluß blickte...

Ayashlee. Das war ihr Name. Und mit dem Namen kam eine Flut von Erinnerungen, allesamt ungebeten. Warmes Essen auf einem Tisch. Ein Handtuch um seine Schultern. Das Rollen des Schiffes unter seinen Pfoten. Flußfellige, die die Ladung an Bord brachten. Eine Zitze unter seiner Schnauze. Weiches Fell und ein warmes Geruch. Herzschlag.

Seine Mutter. Die Gestalt war seine Mutter. Auch sie gehörte, wie Dek, ins Reich der Toten. "Begleitet mich", bat er. Aus irgendeinem Grund war er nicht bereit, Ayashlee aus seiner Gegenwart zu verbannen. Aber da war noch mehr...

Ein Vater. Eine kräftige Figur am Ruder des Schiffes. Gelächter. Karten, auf einem Tisch ausgebreitet. Gold in einem geheimen Versteck. Angelruten und Köder. Ein Bogen, den Saswin ihm geschenkt hatte. Saswin, ja. Ein weiterer Name... Und Saswin war tot, ermordet von den Dämonen, um einen langen und verwickelten Plan in Szene zu setzen.

So viele Tote. Sein Leben schien nur noch von Dämonen beherrscht zu sein. Galbren trug die Schuld an allem. Beladanar. Khezzarrik...

Nein! Nein! Er weigerte sich, an Khezzarrik zu denken. Hier gab es keine Dämonen. Fort, nur fort! Er erhob sich und lief weiter, gefolgt von den beiden Schatten aus einer anderen Welt.

"Khiray, sei vernünftig!" bat ihn seine Mutter. "Du gehörst nicht zu den Toten. Aber dahin wird dieser Weg dich führen. Nichts außer dem Tod ist jenseits des Dunkels!"

Aber das kümmerte ihn nicht. Wenn er erst einmal im Dunkel war, besaß auch der Tod keine Macht mehr über ihn. Das vollkommene Vergessen ließ solche Begriffe nicht zu.

Doch die "wirkliche Welt" loderte hinter ihm wie ein Flammenmeer, als würde er rückwärts in sie hineinrutschen. Niemals! Er konnte die Hitze auf seinem Rücken spüren, aber er würde sich nicht mehr umdrehen und in das Inferno

(die Schmerzen)

hineinsehen. Nie mehr. Er ermüdete nicht. Irgendwann hätte er das Schwarz erreicht.

"Wir beschützen dich, Bruder!" erklärte Dek. "Wir lassen nicht zu, daß dir etwas widerfährt!"

"Zu spät", gab Khiray zurück. "Viel zu spät."

"Nein! Du kannst noch immer umkehren. Es ist vorbei. Du bist in Sicherheit, und die Dämonen können dir nichts mehr tun."

Doch, das konnten sie. Wenn er sich umdrehte. Wenn er auch nur einen Schritt in die Richtung der "wirklichen Welt" ging. Dann würde er sich erinnern, und alles würde von neuem beginnen.

"Du mußt zurückkehren, auch wenn du dich erinnerst", verlangte seine Mutter. "Dein Leben wartet." Sie machte eine Handbewegung, und neben ihr erschien eine dritte Gestalt. Ein mächtiger Steinkoloß, roh und unfertig wirkend, aber beruhigend in seiner Unerschütterlichkeit. "Die Erinnerung kann dir nichts tun. Wir sind hier, um dich hindurchzugeleiten."

"Warum?" wollte Khiray wissen. "Wer hat euch geschickt?"

Ayashlee deutete auf die "wirkliche Welt". "Sie. Geh zu ihr zurück. Wir sind nur Träume. Der Tod hat nichts zu bieten."

"Vergessen", stellte Khiray klar.

Dek winkte ab. "Das ist nichts gegen das Leben. Wenn Erinnerung der Preis dafür ist, wieder leben zu können, so hätte ich nichts dagegen, ihn zu zahlen. Leben ist so viel besser als Vergessen."

"Das sagst du", lachte Khiray bitter. Schon zu viel der Erinnerung war durch das Grau in ihn zurückgeflutet. Die angenehme Taubheit war verschwunden. Er sah jetzt mit vollkommener Schärfe, und das Wissen um alles Geschehene - das Wissen um sein Leben - kehrte Stück für Stück zurück.

Aber er wollte es nicht. Er wollte keinen Teil mehr haben an den Flammen, die ihn doch nur zu Asche verbrennen würden.

"Dir kann nichts geschehen", sagte eine neue Stimme. Sie gehörte einem weiblichen Fuchstauren. "Vier Träume bewachen dich. Nimm unsere Hand und begleite uns durch das Feuer."

"Khezzarrik!" Dieses Trugbild kannte er. Oh, er kannte es zu gut! Das Versprechen auf Rettung, das nur in neuen Qualen endete. Der Dämon benutzte diesen Körper. Nein, dieser Gestalt würde er nicht folgen. Und auch keiner anderen! Er lief davon. Diesmal schien er sich von den Träumen lösen zu können, denn sie folgten ihm nicht, und die Feuer der "wirklichen Welt" blieben zurück. Nach kurzer Zeit war er wieder allein, und das Grau des Himmels wurde mit jedem Schritt dunkler.

Dort, wo die Ebene endete, blieb er stehen. Vor seinen Füßen lag das Nichts, das er sich ersehnte. Die Schwärze erstreckte sich in alle Richtungen, kühl und beruhigend, lockend und verheißungsvoll. Beinahe konnte er diesen Körper vergessen. Und die Flammen. Und die Dämonen.

Er breitete die Arme aus und...

"Khiray!" Nein, nicht schon wieder die Stimme! Sie schien Saljin zu gehören, aber er wußte, wer ihn in Wahrheit rief.

"Khiray vom Fluß!" Er stutzte. Diesen Namen kannte Khezzarrik nicht. Konnte ihn nicht kennen, denn er hatte ihn an diesem Morgen erst erhalten. Khiray sah sich nach dem Dämon um.

Die Fuchstaurin stand nur wenige Meter hinter ihm. Konnte er wirklich Besorgnis auf ihrem Gesicht lesen? Irgendeine Emotion, die nicht Gier und Schadenfreude war? Irgend etwas, das ihm sagte, daß dies nicht der Dämon Khezzarrik khi Valangassis war?

Da war nichts Dämonisches an diesem Traum. Saljin hielt ihm die Hand entgegen. "Komm mit uns." Weiter hinten folgten die anderen drei Gestalten.

Zögernd hob er den Arm. "Kann ich dir trauen?"

"Auf ewig." Ihre Finger berührten sich, und da waren neue Erinnerungen - warmes Fell und vier Pfoten, eine Zunge und glatte Ohren, ein seidiger Schwanz und allumfassende feuchte Hitze. Und ein Gefühl ferner Sehnsucht. Fremdes Land. Der Fluß. Ein Geruch wie von Zimt und Pfeffer. Nähe. Gehalten zu werden in einem fremden Armpaar... und dieses unbeschreibliche Glück. Sie waren zusammen. Liebe. Und zugleich die Furcht davor, getrennt zu werden. Das Wissen, daß ihre Pfade nicht immer in dieselbe Richtung führen würden. Der Schmerz... Aber es war eine andere Art von Schmerz als zuvor. Nicht leichter zu ertragen. Aber ein Preis, den es zu zahlen galt.

Es gab immer einen Preis.

Er hob den Blick und sah auf das Feuer. Der schwarze Abgrund hinter ihm schrumpfte und wich zurück in die Ferne. Die "wirkliche Welt" war schon viel näher.

Er hatte bereits einen Preis gezahlt. An die Dämonen. Und der Grund war Saljin. Nur für sie hatte er es getan. Und jetzt stand er hier am Rande des Nichts, verloren und allein, anstatt an diesem anderen Ort zu leben und mit Saljin

(der wirklichen Saljin)

seine Rückkehr zu feiern.

Nun, nicht wirklich allein. Da waren die Träume. "Khezzarrik!" rief er. Aber der Dämon antwortete nicht. Er sah auf die Flammen, dann in den grauen Himmel und schließlich auf den Saljin-Traum.

Es waren nur Erinnerungen. Der Dämon war fort. Dies war Saljin, die echte Saljin (oder jedenfalls ein Traumbild der echten Saljin). Sie kannte seinen Namen. Seinen wahren Namen.

Nur Erinnerungen. Und Khiray vom Fluß würde sich nicht von bloßen Erinnerungen ins Nichts treiben lassen. Es gab mehr in der "wirklichen Welt" als nur Schmerz und höhnisches Gelächter. Mehr als nur grenzenlose Erniedrigung und ewige Täuschung.

Er nahm Saljins Hand in die Rechte und Ayashlees Hand in die Linke. Kein Dämon würde ihn an diesen Ort verbannen. Nicht einmal Khezzarrik. Besonders nicht Khezzarrik. Den letzten Sieg würde kein Dämon davontragen, sondern Khiray. Khiray vom Fluß.

Gemeinsam schritten sie in die Flammen. Er spürte das Feuer, aber es konnte ihm nichts anhaben. Nur Erinnerungen. Der Troll und der Fuchstaur schritten voran und bahnten ihm einen Weg. Zurück ins Licht. Dorthin, wo die wirkliche Saljin war.

* * *

Sie erwachte von einer Berührung in der Nacht. Hände hatten sich in ihr Fell gegraben. Sie schreckte auf, aber es war niemand da.

Nur Khiray.

Der Fuchs blinzelte sie verschlafen an - verschlafen und sehr, sehr schwach. "Bist du das wirklich?"

"Ja! Ja, ich bin es..." Saljin ergriff ihn unter den Armen und hob ihn hoch, als wäre er ein Welpe. Sie drehte ihn hin und her und drückte ihn endlich an sich. "Natürlich bin ich es."

"Wasser?"

Sie beeilte sich, ihm etwas einzugießen. "Du bist wieder da!"

"Ich bin mir nicht sicher, wo ich gewesen bin", stellte er mit schwacher Stimme fest. "So ein seltsamer Ort." Sein Blick fiel auf die Traumschnitzereien, aber er sagte nichts dazu.

"Leg' dich wieder hin und schlaf' eine Weile." Saljin hatte den Eindruck, als könne Khiray sowieso jeden Moment wieder umfallen.

Gehorsam streckte sich der Fuchs auf den Decken aus. "Ich habe nachgedacht."

"Was?"

"Du. Und ich. Da, wo ich war, hatte ich eine Menge Zeit... Auf dem Weg ins Dunkel. Bevor die Finsternis kam. Ich dachte an dich und dein Volk." Er machte eine Pause. "Du glaubst, daß du mir etwas schuldest, nicht wahr?"

Saljin hoffte, daß er es nicht aussprechen würde. Was er getan hatte, machte ihre Verpflichtung ihm gegenüber nur um so schwerwiegender. Aber selbst sein Wunsch konnte sie nicht für alle Zeit an ihn binden. Er liebte sie, und sie konnte ihn verstehen, doch es gab auch eine Pflicht, die sie zurück zu ihrem Volk führte. Sie konnte - wollte ihn nicht enttäuschen. Aber die Pflicht war eine Fessel, und wenn er ihr diese Fessel anlegte, sie an sich zu ketten versuchte, würde er alles zerstören, was zwischen ihnen bestehen mochte. Vielleicht liebte sie ihn auch. Aber solange der Schatten der Verpflichtung über ihnen (und zwischen ihnen) lag, konnte sie sich das nicht eingestehen.

Die alte Tradition band selbst ihre Gefühle. Aber wenn Khiray sie ausnutzte - auch ohne es zu wissen -, würde jede Emotion im Keim erstickt werden. Keine Liebe konnte in der Fessel der Pflicht bestehen.

Wenn er es aussprach, würde er alles verändern. Er mochte ein Recht darauf haben, nach allem, was er getan hatte. Auch er suchte nur nach etwas Glück. Aber er konnte es mit einem einzigen Wort vernichten, ehe es begonnen hatte. Und sie konnte ihn nicht einmal daran hindern, diesen Fehler zu begehen. Sie sah zur Seite.

"Wenn wir die Dämonen geschlagen haben", sagte er, "wirst du heimkehren. Dein Volk wartet auf euch, und du bist die letzte, die ihm noch die Nachricht überbringen kann. Ich habe noch etwas Gold, du kannst also die Medizin kaufen, wenn wir in Drun'kaal sind."

Sie blickte überrascht auf. "Willst du, daß ich gehe?"

Er schüttelte eilig den Kopf. "Nein. Nein, niemals. Aber ich muß meinen Weg gehen, und du deinen. Und ich habe das Gefühl, daß es nicht mehr lange dauern wird, bis sich diese Wege trennen. Ich habe mein Schiff und den Fluß. Du hast deine Ebenen. Ich würde gerne..." Er schloß die Augen. "Ich würde gerne mit dir kommen. Aber mein Vater hat dieses Schiff gefahren, und sein Vater vor ihm. Ich werde nie ein großer Abenteurer sein. Und ich kann nicht von dir verlangen... in diesem Land, das nicht dein eigenes ist, zu bleiben. Ich würde dich gerne für immer an meiner Seite haben. Aber 'für immer' ist eine lange Zeit, und neben der Zeit haben nicht einmal Träume Bestand. Nicht der Traum von fernen Ländern, nicht der Traum, mit dir zusammen zu sein. Ich möchte nicht, daß du glaubst, mir etwas zu schulden. Das tust du nicht. Du bist frei, du kannst tun, was immer du willst. Ich würde gerne..." Er verstummte.

Frei? Er entband sie von der Verpflichtung? Er berief sich nicht darauf? "Danke", sagte sie atemlos. "Ich... Du weißt nicht, was das für mich bedeutet." Nein, das wußte er wirklich nicht. "Aber ich werde für dich da sein, wenn du mich brauchst. Solange unser Weg in eine Richtung führt." Sie erkannte, daß sie wünschte, das möge möglichst lange der Fall sein. Das Gefühl der Erleichterung und der Befreiung war so überwältigend, daß sie dahinter nur schwach ausmachen konnte, was Khiray ihr wirklich bedeutete.

Aber eine Frage mußte sie stellen. "Warum?"

Er lächelte und sah sie an. "Ich habe geträumt... einen seltsamen Traum. Meine Mutter kam darin vor. Sie hat mir vor langer Zeit, als ich noch ein Welpe war, etwas gesagt, und ich habe mich erst jetzt daran erinnert. Wie an so viele Dinge... Ist es nicht seltsam, wie man sich im Traum an etwas erinnern kann, was man im Wachen längst vergessen hat?" Seine Stimme wurde leiser. Saljin sah, daß er kurz davor stand, wieder einzuschlafen. Sie nahm die Traumschnitzerei von Ayashlee vom Nachttisch. "Was? Was hat sie gesagt?"

"Man kann einen Vogel nicht in der bloßen Hand fangen. Wenn man es tut, zerdrückt man ihn. Aber man kann seinen Finger ausstrecken. Manchmal setzt sich ein Vogel darauf... und manchmal singt er für dich." Er schloß abermals die Augen, und sein Atem verriet, daß er eingeschlafen war.

Es war Saljin recht. Vielleicht hätte er nicht verstanden, warum sie weinte.


Ende von Kapitel Neunzehn