Kapitel Fünfzehn


Die Planken der 'Silbernen Ansicc' zitterten unter Saljins Pfoten. Wasser stob an den Bordwänden empor. Erst jetzt wurde der Fuchstaurin klar, wie niedrig die Reling war, wie dicht am Wasserspiegel. Natürlich, die 'Ansicc' war ein Flußschiff, nicht dafür vorgesehen, den Meereswogen standzuhalten. Saljin verstand nicht genug von der Seefahrt, doch sie schätzte, daß das Meer kaum wilder sein konnte als der Fluß hier.

Sie hatte die Breite der Schnellen unterschätzt. Der Abstand zwischen den Felswänden betrug mehr als die dreifache Länge der 'Ansicc', wenn nicht noch mehr. Doch die gewaltigen Klippen ringsum ließen den Strom winzig erscheinen. Zweihundert, vielleicht dreihundert Meter ragten sie empor, höher als der Fluß breit war. Der Otterpfad hatte sich im Laufe der Jahrhunderttausende durch den Berg gefressen und über die ganze Höhe des Kliffs seine Wassermarken hinterlassen.

Die Ufer des Flusses waren gesäumt mit Felsen, scharfkantigen Vorsprüngen und Simsen. Ein Teil davon schien künstlich, Bestandteil des Mechanismus, mit dem die Otter ihre Schiffe flußauf zogen. Die anderen jedoch waren gefährliche Hindernisse: vom Otterpfad herangeschleppte Brocken, niedergebrochene Felsnasen aus Bergrutschen und gewaltige, aus den Tiefen des Bergmassivs aufgestörte Findlinge, deren scharfe Kanten selbst der Fluß noch nicht hatte glätten können.

Binnen kürzester Zeit triefte Saljin vor Nässe. Die Kälte durchdrang ihr Fell und ließ sie frösteln. Aufspritzende Gischt benetzte das Deck vom Bug bis zum Heck. Sie konnte kaum sehen, in welche Richtung sich die 'Ansicc' bewegte: ringsum versank die vormals klare Sicht in einem Inferno tosenden Wassers.

Vorsichtig, beide Hände an der Reling haltend, bewegte sie sich vorwärts, zur Treppe hin. Sie hatte keine Angst; in dem chaotischen Rauschen ringsum war die Gefahr unsichtbar. Sie konnte das Schiff bocken spüren, aber selbst das nahe Schaufelrad wurde im Sprühregen zu einem fernen Schatten.

Sie wußte natürlich, daß eine Welle sie mitreißen konnte. Der wilde Fluß hätte sie ertränkt - Schwimmen nutzte bei dieser Strömung wenig - oder an den Felsen zerschmettert. Nicht einmal die Otter, ganz gleich was sie behaupteten, konnten in diesem Wasser überleben. Aber diese Aussicht schien merkwürdig fern, als wüßte sie bereits, daß diese Art von Tod ihr nicht bestimmt war.

Dorn war hier ertrunken, sein Schiff zerschellt. Selbst die Otter sahen die Schnellen als gefährlich an. Aber sie war zuversichtlich, daß Khiray den Fluß bezwingen würde.

Warum? Sie hatte ihn nie in einer kritischen Situation steuern sehen. Der Fluß war bisher sanft und freundlich gewesen. Jedermann hätte das Schiff unter diesen Umständen führen können.

Aber die Gewißheit war da. Sie hatte es in seinen Augen gesehen. Und sie wußte noch etwas mehr.

Sie kannte jetzt Khirays Namen.

Ein gewaltiger Stoß riß ihre Hände von der Reling. Die 'Ansicc' hatte einen Felsen gerammt. Das Splittern und Krachen, das das Bersten des Schiffs ankündigte, blieb jedoch aus: die Strohballen hatten den Aufprall abgemildert und das Fahrzeug weitergleiten lassen.

Der Bug tauchte ab, schwang sich wieder in die Höhe wie ein Vogel, der zum Start ansetzt.

Eine brüllende Welle rollte über das Deck, erfaßte Saljin und riß sie mit sich. Sie versuchte, wieder die Reling zu packen, doch zu spät. Der Wucht des Wassers hatte sie nichts entgegenzusetzen; selbst vier Pfoten konnten auf dem glatten Deck keinen Halt bieten. Sie fühlte, wie sie emporgehoben wurde, gegen die Kabinenwand prallte und über das rauhe Holz schlidderte. Schaum biß in ihren Augen. Sie schlug mit allen Gliedmaßen um sich, um irgendwo Halt zu finden, ehe das Wasser sie über das Heck hinaus in den Fluß trug.

Mittschiffs wurde das Außendeck schmaler. Nur ein kleiner, niedriger Gang führte unter den Achswellen der Schaufelräder hindurch, die in einem hölzernen Getriebekasten abgeschirmt waren. Dieser Kasten bildete eine Brücke zwischen dem Gehäuse des Schaufelrads und der Wand des Maschinenraums. Fryyk hatte ihr erklärt, daß man ihn als "Wellenbrücke" bezeichnete. Nicht alle Dampfer verfügten darüber; bei einigen war das unterste Deck einfach nicht umlaufend, sondern endete an dieser Stelle.

Die Wellenbrücke bremste Saljins Ritt. Unsanft wurde sie gegen das krachende Holz geschleudert. Einige Bretter des Kastens brachen. Die Woge zerstob, und das Wasser strömte zu allen Seiten fort.

Die Fuchstaurin sackte aufs Deck zurück und blickte benommen gen Heck. Einen Meter tiefer, und der Sog hätte sie unter der Wellenbrücke hindurch gezogen und sie bis zum Heck mitgenommen. Eilig griff sie wieder zur Reling, obgleich sie sich gar nicht sicher war, ob ihre Arme stark genug waren, um den Wassergewalten zu widerstehen. Sie mußte weg von hier, ins Innere des Schiffes oder zumindest auf ein höheres Deck.

Die Lager des Schaufelrades knirschten. Hier in der Nähe des Rades konnte sie seine Bewegungen genau verfolgen. Es drehte sich leicht, dann stoppte es, kehrte seine Richtung um, begann hastig zu wühlen, stoppte wieder und änderte erneut die Richtung.

Diese Art von Bewegung war nicht das, wofür der Dampfer geschaffen war, und man konnte es am Protestieren der Mechanik hören. Aber es war der einzige Weg, die 'Silberne Ansicc' überhaupt steuern zu können.

Saljin fragte sich, woher Khiray wußte, wann er die Drehrichtung welchen Rades ändern mußte, und wie schnell die Räder laufen mußten, um die 'Ansicc' um einen Felsen herumzubugsieren. Die großen Schaufeln waren träge, und der Fluß trug das Schiff so schnell den Hindernissen entgegen, daß es unmöglich schien, noch rechtzeitig zu reagieren. Fast war die Fuchstaurin dankbar dafür, daß sie nichts sehen konnte. Es ersparte ihr das Bangen, ob der Fuchs wirklich schnell genug für diese Aufgabe war.

Im Maschinenraum, genau neben ihr, mußten Delley und Kinnih sich jetzt damit abplagen, die Kessel gleichmäßig geheizt und die Maschinen am Laufen zu halten. Die überbeanspruchte Maschinerie konnte brechen und ihnen um die Ohren fliegen - wie hätten die Konstrukteure der 'Ansicc' auch eine solche Fahrt vorhersehen können?

Saljin tastete sich vorwärts. Ihre Seite schmerzte vom Aufprall, und die rechte Vorderpfote war geprellt, jedoch nicht gebrochen. Nichts, was eine Kriegerin nicht handhaben konnte. Ein Otter eilte an ihr vorbei - er schien keine Probleme mit der Gischt, dem glatten Deck oder den Wellen zu haben.

Noch immer schien der Fuchstaurin die Gefahr wenig akut. Sie wußte, daß sie nur knapp dem Ertrinken entronnen war, aber nicht einmal das brachte ihr Blut in Wallung. Der Schmerz war real, doch wirkte er mehr ärgerlich als aufstachelnd. Vielleicht lag es daran, daß sie nicht wirklich Teil dieses Unternehmens war: Sie stand nur im Weg. Sie gehörte nicht zur Mannschaft, die die 'Ansicc' über die Schnellen tragen mußte. Es gab nichts, was sie tun konnte.

Außer natürlich - nicht länger im Weg zu stehen.

Sie erreichte die Treppe, ließ die Reling los und eilte hinüber, ehe der Bug sich wieder heben konnte, um eine neue Wasserladung über das Deck zu senden. Fische schienen darin zu zappeln, doch sie verschwanden sofort wieder im brausenden Fluß.

Saljin konnte nichts hören außer dem Donnern des Wassers an den Felsen. Sie spürte die Vibration der Maschinen in den Pfoten, aber sie konnte keinen Laut wahrnehmen. Der Fluß ertränkte jede Wahrnehmung außer dem Tastsinn - sie vermochte auch nichts zu riechen außer mineralischem Wasser, und alles, was sie sah, wurde durch Schleier weißer Gischt gefiltert. Wasser in ihrem Fell, Wasser auf ihrer Zunge.

Mühsam arbeitete sie sich hoch. Das Schwanken der 'Ansicc' nahm zu, je höher sie kam. Auf dem zweiten Deck war die Sicht besser, obgleich selbst hier noch schauergleiche Güsse niederregneten und die Planken rutschig machten. Aber immerhin konnte sie zum ersten Mal wirklich sehen, wohin sie fuhren.

Sie wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. Die Schnellen voraus hatten wenig Ähnlichkeit mit irgendeinem Fluß, den sie kannte. Weißer Schaum in einem brodelnden Hexenkessel, eine Hölle aus wildgewordenen Fluten, in der sich alle Geister des Wassers getroffen hatten, um ein wahnsinniges Gefecht auszutragen: die Felsen waren halb nur als schwarze Schemen zu erkennen, halb nur anhand des aufspritzenden Wassers auszumachen, Zähne in einem endlosen Rachen des Berges.

Die Felswände schienen sich zu verengen, um das Schiff zwischen sich zu zerquetschen. Saljin versuchte in eine andere Richtung zu sehen, aber die Klippen waren überall, monströs und drohend. Sie mußte sich daran erinnern, daß hier Trolle wohnten. Von weiter oben sah der Fluß vermutlich nicht so schlimm aus.

Wenn man diesem Fluß jedoch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war...

Sie atmete tief ein. Es gab nichts, was sie tun konnte, es gab kein Zurück, nur ein Voran, bis sie der Hölle entronnen waren. Durch die Gischt unter ihr rannten Otter, zerrten an Seilen, hievten Strohballen von einer Seite auf die andere, inspizierten die stöhnenden Flanken des Schiffs. Saljin wußte nicht, was sie im Einzelnen taten. Schiffsvolk, Schiffsarbeit.

Weit oben, am Rand der Schlucht, stürzten sich Vögel in die Tiefe, zogen ihre Kreise, folgten dem Schiff ein Stück und drehten wieder ab. Dort in der Luft konnte der Fluß ihnen nichts anhaben.

Aber er versuchte es. Die Wellen peitschten in die Höhe, bildeten silberne Arme aus zornigem Wasser, griffen nach den Vögeln, nur um ohnmächtig ins Bett zurückzufallen. Strudel glotzten in die Höhe. Unfähig, die Vögel zu treffen, hieb der Fluß auf die 'Silberne Ansicc' ein.

Unfug! Benommen schüttelte Saljin den Kopf. Der Fluß war kein lebendes Wesen, nur ein Ding! Es hieß, daß es Geister gäbe, die im Wasser lebten, aber sie hatte derlei noch nicht zu Gesicht bekommen.

Ein Schatten schob sich an ihre Seite. Die Fuchstaurin fuhr zusammen - Geister! Dann erkannte sie Sarmeen und schalt sich einen Narren. Der Wolf war als Sohn des Gouverneurs von Sookandil für andere Aufgaben erzogen worden als die Seefahrt. Wie sie selbst, hatte auch er in solch einem Moment keinen Platz an Bord.

Der Wolf sah sie kurz an und nickte. Sie hatten sich in Galbrens Kerker kennengelernt, wenn Kennenlernen das richtige Wort war. Die Bären-Dämonen hatten Dek und Saljin in die Käfige gestoßen, die der verräterische Gouverneur für mißliebige Gefangene dort hatte einrichten lassen, und Galbren selbst hatte Sarmeen und die Fuchstauren miteinander bekanntgemacht. Galbren hatte gewollt, daß sie von Sarmeens Schicksal wußten - vielleicht, um mit seiner eigene Unerbittlichkeit und Skrupellosigkeit zu prahlen, vielleicht, um ihnen Furcht einzuflößen, als Futter für die Dämonen.

Der Kerker war ein Ort gewesen, an dem sie wirklich Furcht empfunden hatte. Die Drohung der Folter, die über ihren Köpfen gehangen hatte, war weit schlimmer als die der Verletzung oder des Todes im Kampf, und sei es nur der Kampf gegen die Elemente. Folter bedeutete Ausweglosigkeit, kein Entkommen: das ständige Lauschen auf Schritte, die den Beginn neuer Schmerzen bedeuten würden, die Ankunft der Folterer, das Auspacken der Instrumente. Es bedeutete das Wissen, was mit ihren Körpern geschehen würde: Verstümmelung, würdelose Fessel, Vergewaltigung. Und die Qual, die um so vieles schlimmer wurde dadurch, daß niemand versuchte, sie zu lindern, im Gegenteil, daß jeder Folterknecht danach trachtete, sie bis an den Rand des Todes zu verstärken. Und das Wissen, daß es kein Ende geben würde, weder im Tod - solange sie Galbren nicht alles gesagt hatten, was sie wußten - noch in einem Ende des Schmerzes, der wieder und wieder und wieder mit den hallenden Schritten im Gang zurückkehren würde. Kein Schlaf, denn im Schlaf kamen die Träume. Keine Ruhe, denn das Wissen um künftige Schmerzen hielt sie ebenso wach wie die Auswirkung vergangener Pein.

Es war ohne Bedeutung, daß Galbren nicht mehr dazu gekommen war, sie zu foltern. Er und seine Dämonen hatten die Instrumente gezeigt, und solange Galbren lebte, würde diese Drohung über ihnen schweben. Es war ohne Bedeutung, daß sie nie zuvor in einer ähnlichen Situation gewesen war, denn Folter gab es unter Fuchstauren schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Die Erwartung des Schmerzes, der Hilflosigkeit, der Demütigung war die Hälfte der Folter, und diesen Teil hatte sie sehr real erlebt. Sie konnte sich erinnern... sich erinnern, aus blutroten, qualvollen Träumen schreiend erwacht zu sein. Dek sagte nichts dazu. Er erwähnte nicht einmal, was sie während ihrer unruhigen Bewußtlosigkeit gerufen haben mochte. Aber sie konnte es lesen, in seinen und Sarmeens Augen.

Die Kerker - nein, das war kein Ort, in dem der Stolz und die Ehre des Kriegers noch etwas zählten. Sie waren ein Ort der Dunkelheit, passend zum Geiste Galbrens.

Und Sarmeen war weitaus länger in seinem Käfig gewesen als die Fuchstauren. Die Götter allein wußten, was Galbren ihm in dieser Zeit noch angetan hatte.

Sarmeen starrte dem Fluß entgegen und lachte ein kehliges, knurrendes, bellendes, zungenloses Lachen. In seinen Augen spiegelte sich die Herausforderung.

Saljin war sich nicht sicher, ob sie der Welt je wieder auf diese Weise hätte begegnen können, wenn sie dasselbe erlebt hätte wie Sarmeen. Wenn Galbren ihr alles angetan hätte, was er drohte. Es war so schon schlimm genug.

Aber vielleicht war das, was sie neben sich stehen sah, auch nicht derselbe Sarmeen, den Galbren in seinen Kerker gesperrt hatte. In seinem Lachen war nichts Freudvolles. Er forderte den Tod heraus, vielleicht seinen, vielleicht Galbrens. Saljin schauderte. Sie wußte, daß sie selbst erst dann wieder völligen Frieden finden würde, wenn Galbren tot war - und wenn all ihre Probleme sich verflüchtigt hatten. Keine Dämonen, kein Mangel an Medizin... keine Verpflichtung.

Aber Sarmeen trank die Gischt und den Wind mit einer Miene, die deutlich machte, daß er auf sein eigenes Leben wenig Wert legte. Es hätte ihm nichts ausgemacht, in den Tod zu gehen, wenn er nur Galbren mit sich nehmen konnte. Das war etwas, was Saljin nicht spürte - sie wollte leben, heimkehren, wieder die unschuldige Freude genießen, über die weite Steppe der Heimat zu galoppieren. Mit Khiray oder ohne ihn (vorzugsweise mit - es gab so viel, das sie ihm zeigen wollte!), doch ganz gewiß wollte sie in diesem sumpfigen Land nicht sterben.

Es gab ein Sprichwort, vielen Kriegervölkern gemeinsam: Wer den Tod fürchtet, hat den Kampf schon verloren. Wer die Niederlage in Betracht zieht, wird als Besiegter enden.

Den Tod fürchtete sie nicht, mochte er kommen. Sie hätte es bedauert, aber niemand bestimmte selbst, wann es Zeit zum Gehen war. Doch sie fragte sich, ob das Sprichwort auch galt, wenn man Gefangenschaft und Folter fürchtete. Die Rückkehr in Galbrens Kerker - die Gier der Dämonen nach Qualen und Verzweiflung. Dies war jenseits dessen, wofür ihr Volk noch Sprichwörter hatte, jenseits der Erfahrung der Krieger.

Wer keine Furcht kennt, ist nur tollkühn. Wer sich fürchtet und die Furcht überwindet, nur der ist mutig.

Ah! Sie lachte bitter. Leicht gesagt. Sprichwörter halfen ihr nicht. Man konnte Dämonen nicht mit alten Redeweisheiten erschlagen.

Sie wandte sich von Sarmeen ab und stieg weiter empor, bis zum obersten Deck. Das Schwanken der 'Ansicc' war in allen vier Pfoten zu spüren. Sie versuchte, das geprellte Bein zu schonen, aber das Schaukeln war zu stark; wieder und wieder mußte sie sich auf dem kurzen Weg zum Steuerhaus abstützen, und jedesmal fuhr ein scharfer Schmerz bis in ihre Schulter. Verdammnis! War der Knochen doch gebrochen?

Die Tür des Steuerhauses öffnete sich nach achtern, so daß sie gefahrlos eintreten konnte, ohne einen Gischtsturm mit sich zu bringen. Doch so weit oben gab es ohnehin nur wenige Spritzer, die die Scheiben benetzten. Das Brodeln des Flusses lag weit unter ihr.

Khiray nahm keine Notiz von ihrem Eintreten. Er hatte eine Hand am Ruder und die andere am Steuergerät, mit dem man die Bewegung der Schaufelräder unmittelbar kontrollieren konnte. Seine Augen waren in vollkommener Konzentration auf die Schlucht gerichtet.

Saljin sagte nichts. Sie war nicht hergekommen, um mit Khiray zu reden. Der Fuchs brauchte jetzt seinen ganzen Verstand und all seine Instinkte, um die Stromschnellen zu überwinden.

Es lag jenseits ihres Verstehens, daß er überhaupt im Wahnsinn des kochenden Flusses einen Pfad für das große Schiff ausmachen konnte - einen Pfad, der den Dampfer nicht sofort in Stücke brechen ließ.

Ein weiteres dumpfes Krachen verkündete, daß auch Khiray nicht perfekt steuern konnte, wenn es einen perfekten Weg über die Schnellen überhaupt gab. Die 'Ansicc' schwankte stärker, begann sich zu drehen. Khiray bewegte das Ruder und ließ die Räder in einem neuen Rhythmus rotieren.

Das Schiff stellte sich wieder gerade. Doch die Felswände waren bedrohlich nahe gekommen. Weiter voraus schienen mehrere Vorsprünge die Fahrrinne zu verengen; wie die Unglücksgötter wollten, natürlich auf der Seite, auf der das Schiff gerade fuhr. Saljin hielt den Atem an.

"Keshome! Nuka, nuka drak!" Die Fuchstaurin hatte Khiray noch nicht in dem harten, schnellen Otterdialekt sprechen hören, aber sie erkannte diese Art zu sprechen. Fryyk redete mit "seinen" Ottern so. Ein System aus metallenen Rohren leitete Khirays Worte weiter nach unten.

Der Fuchs biß die Zähne zusammen. "Nicht genug Zeit zum Ausweichen und Gegensteuern. Da vorne kommt die kritische Stelle. Wir müssen auf dieser Seite bleiben!" Sein Schwanz zuckte.

Saljin hob die Ohren. Kritische Stelle? Waren sie nicht gerade mitten in einer solchen kritischen Stelle? Und was sollte das heißen, nicht genug Zeit...

Sie kam nicht mehr dazu, den Gedanken zu vollenden. Das Schiff war inzwischen der Steuerbord-Felswand so nahe gekommen, daß diese sich fast mit der Hand berühren ließ. Die vorspringenden Felsen bohrten sich auf der Höhe des dritten Decks in den Rumpf. Das Splittern und Krachen der Kabinenwände übertönte für einen Moment sogar den Fluß. Die 'Ansicc' neigte sich erst nach rechts, dann kreischten die Planken erneut. Khiray schien zu ahnen, wohin das Schiff als nächstes rucken würde, denn er konnte sich auf den Füßen halten, während Saljin trotz vier Pfoten hin und her taumelte, bis sie sich an den Messingbeschlägen des Steuerhauses festhielt.

Die 'Ansicc' war langsamer geworden, doch nur für kurze Zeit. Saljin wagte einen Blick heckwärts, wo die Felsnase den Rumpf aufgerissen hatte. Die Beschädigungen lagen glücklicherweise oberhalb des Steuerbordrades und weit über dem Wasserspiegel, sonst wäre der Dampfer zum hilflosen Spielball der Wellen geworden.

Vom Steuerhaus aus konnte man nichts Genaues erkennen, aber die aufragenden Balken und eingesackten Teile des Decks darüber ließen nichts Gutes ahnen.

Als sie sich wieder umdrehte, verstand sie, was Khiray mit der kritischen Stelle gemeint hatte.

Der Fluß teilte sich hier. Ein riesiger Felsblock in der Mitte des Flußbettes ließ die Wassermassen links und rechts vorbeiströmen, und dahinter...

Die Zeit hatte eine gewaltige schräge Ebene ausgewaschen, die der Otterpfad nun mit ungehemmter Wucht herabströmte. Es war kein Wasserfall - nicht im Sinne der Fälle, die Saljin aus den Bergen kannte. Einen richtigen Wasserfall hätte der Dampfer niemals überlebt. Aber es war ein Hang, ein Hang aus Wasser, ein Hang aus titanischen, beinahe lebendigen Fluten, die sich hier nicht mehr in Strudeln und Wellen, Gischtwogen und Unterströmungen erschöpften, sondern zielsicher in eine einzige Richtung flossen.

Für einen Moment wurde Saljin schwindelig. Dann schien das Schiff über eine Kante zu gleiten, und wie ein lebendiger Ansicc stürzte es sich hinab. Nur daß ein lebendiger Ansicc, der das gewagt hätte, von seinen Artgenossen wahrscheinlich für lebensmüde gehalten wurde.

Es gab hier kein Steuern mehr, kein Gegenlenken. Gegen den vereinten Strom waren die Schaufelräder und das Ruder so machtlos, als sei die 'Silberne Ansicc' ein Kinderspielzeug, das führerlos dem Fluß zum Meer anvertraut wurde.

Khiray stand unbeweglich da, schweigend, das Ruder in der Hand, das gegen seinen Griff kämpfte.

Saljin sog scharf die Luft ein. Ihre Schnauze fühlte sich eiskalt an.

Die 'Ansicc' drehte sich. Langsam, unaufhaltsam, glitt das Schiff aus seiner normalen Position, bot die Seite dem Strom, trieb dann mit dem Heck voraus. Der Fuchs runzelte die Stirn, tat aber sonst nichts: die Macht des Kapitäns endete hier.

Die Fuchstaurin spürte die Kälte und Feuchtigkeit an ihrem ganzen Körper. Sie konnte nicht schwitzen, wie es die Men'schin taten, aber die Gischt fühlte sich in diesem Moment nicht anders an als Angstschweiß. Sie waren Puppen in der Hand von Titanen. Das Wasser schlug gegen die Hülle des Schiffes wie ein gewaltiger Gong. Die Urmächte der Erde hielten sie in der Gewalt. Selbst die Zauberkraft der Dämonen mußte hier verblassen. Nichts konnte den Fluß in seinem Lauf bremsen.

Von einem Moment zum anderen kehrte die Kontrolle über das Schiff zurück. Der Strom entließ sie aus seinem Griff. Sofort riß Khiray das Ruder herum, um die noch immer schräg fahrende 'Ansicc' auszurichten.

Felsen. Überall waren Felsen. Saljin war sich sicher, daß der Dampfer zerschellen würde, aber irgendwie wand sich das Schiff um die Riffe herum.

"Das Geheimnis liegt darin, daß man dem Strom folgt, statt mit ihm zu kämpfen", sagte Khiray. Saljin war sich nicht sicher, ob er mit ihr sprach oder zu sich selbst - oder zu unsichtbaren Zuschauern. "Man kann der Gewalt des Wassers nicht widerstehen. Selbst der ruhige Strom ist ein mächtiger Gegner. Mancher Fluß, der nach außen hin still und zahm erschien, erwies sich als hinterhältig und heimtückisch. Man muß es fühlen. Man muß den Fluß kennen. Man muß der Fluß werden."

Der Fluß werden. Genau das tat der Fuchs. Saljin konnte sehen, wie er mit dem gewaltigen Urwasser draußen verschmolz. Seine Augen waren die Augen des Stroms. Sein Körper wand sich, von der Spitze der Ohren bis zum weißen Ende seines Schwanzes, im Rhythmus des Otterpfads. Er war der Fluß, er war das Schiff. Ein neuer Tanz, älter noch als der, den sie gemeinsam getanzt hatten. Denn das Wasser floß bereits von den Bergen, ehe es Leben auf dieser Welt gab.

Die Fuchstaurin war versucht, nach dieser Melodie zu singen, aber sie wußte, daß sie den Fluß nie so kennen würde wie Khiray. Es war in seinem Blut, dies war das Erbe seiner Ahnen. Sein Vater hatte dieses Ruder vor ihm gehalten, wie dessen Vater vor ihm, und dessen Vater. Seine Familie hatte den Strom gekannt, seit die Füchse aus dem Heimatland gekommen waren, vor weit über tausend Jahren.

Eine große Ruhe überkam Saljin. Sie spürte das, was sie schon zuvor gewußt hatte und was nur die Wildheit des Stroms aus ihren Gedanken vertrieben hatte: Sie würden nicht sterben. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht durch den Fluß.

Denn der Fluß hatte einen Meister.

* * *

Es dauerte nicht mehr lange, bis die Felswände wieder auseinanderwichen. Der Otterpfad war auch hier noch schnell, aber das wilde weiße Wasser lag hinter ihnen. Die 'Silberne Ansicc' hatte Dorns Schnellen überwunden.

Khiray starrte blicklos in die Ferne.

"Wir haben es geschafft", seufzte Saljin. "Wir haben es geschafft!"

Mit sichtlicher Anstrengung löste der Fuchs sich vom Ruder. Kinnih, das Fell gekräuselt von heißem Wasserdampf, kam herauf und nahm es ihm ab. Der junge Dachs war außer sich vor Freude. "Die ersten! Kapitän, wir sind die ersten, die es geschafft haben!"

Khiray nickte nur und ließ sich von Saljin nach unten begleiten. Die Fuchstaurin konnte spüren, daß seine Hände zitterten. Gemessen nach Minuten war die Fahrt kurz gewesen.

Die Otter, Sarmeen und Pakkaht gesellten sich zu ihnen aufs Vorderdeck. Delley blieb bei seinen Maschinen, und Shooshun nahm den Ausguck ein, eine Aufgabe, bei der sich der ältliche Frachtmeister reichlich wichtig vorkam, obgleich hier vor Bärenberg keine Probleme mehr zu erwarten waren.

Pallys tippte Khiray auf die Schulter. "Ich gratuliere. Es war zwar vollkommen närrisch, aber ich gratuliere trotzdem."

Endlich lächelte der Fuchs. "Du hast recht. Ja, es war vollkommen närrisch. Aber ich nehme deine Gratulation trotzdem an."

Sie blieben den ganzen Vormittag auf dem Vordeck sitzen, unterbrochen nur von der einen oder anderen Ablösung - Delley beschwerte sich bereits, daß man ihn vergessen habe - und einem kurzen Imbiß, den Kinnih aus den Vorräten zubereitete, bis Bärenberg in Sicht kam. Saljin fragte sich, wie das Schiff auf die Bären wirken mochte: eine Seite zerfetzt, übersät mit zerrissenen Strohballen, überschwemmt und ramponiert.

Als sie sich den Anlegestegen näherten, standen bereits zahlreiche Bären und Otter - sowie einige wenige Vertreter anderer Rassen - am Kai. Man war darauf aufmerksam geworden, daß zum ersten Mal in der Geschichte Bärenbergs ein Dampfer aus der Richtung der Schnellen kam, ein großes Schiff statt eines kleinen Otterbootes.

Saljin war etwas nervös. Bären waren es gewesen, die die Fuchstauren geschlagen und getötet hatten. Sie zweifelte daran, daß sie sich bei diesem Volk jemals besonders wohl fühlen würde. Aber die hiesigen Bären schienen ganz anders als die Dämonen: sie waren relativ klein, braun und behäbig, und sie begegneten der Mannschaft der 'Silbernen Ansicc' nicht mit Feindschaft, sondern mit ehrfürchtigem Staunen und Schweigen. Die Otter machten das Schiff fest, und einer nach dem anderen ging an Land. Schließlich kam einer der Bären auf sie zu. Er trug eine goldene Kette, wahrscheinlich eine Art Abzeichen.

"Um", räusperte er sich. Seine dunklen Augen sahen drein, als könne er noch immer nicht glauben, was sich vor seiner Nase abspielte. "Seid Ihr der Kapitän?"

Khiray nickte. "Ich bin..."

"Khiray vom Fluß", unterbrach ihn Saljin.

Der Fuchs wandte ihr langsam den Kopf zu. Sie lächelte ihn an. Dies war sein Name. Er hatte ihn nicht nur verdient: es war ein Teil seines Selbst. Er war Khiray vom Fluß. Selbst hier, in einem Land, wo fuchstaurische Namensgebung nichts bedeutete, konnte er niemals etwas anderes sein.

Der Kapitän der 'Silbernen Ansicc' machte einen Schritt vorwärts und trat dem Bären hocherhobenen Hauptes entgegen. "Ich bin Khiray vom Fluß. Und ich denke, wir haben wichtige Dinge zu besprechen und nicht viel Zeit..."


Ende von Kapitel Fünfzehn