Kapitel Zwölf


Als Khiray bemerkte, daß die Maschinen nicht mehr liefen, warf er sich hastig das Lendentuch über und ging an Deck, dicht gefolgt von Saljin. Kinnih, Pallys und Delley hatten das Anlegemanöver schon vollzogen und vertäuten gemeinsam mit Sarmeen, Kaslin-Ray, Pakkaht und den Ottern das Schiff. Shooshun sprach mit einem Otter, der der Vorstand des Dorfes zu sein schien und sich offenbar sehr darüber wunderte, daß sich ein Dampfer überhaupt hierher verirrte, geschweige denn einer ohne jede Ladung.

Otter - im Gegensatz zu allen anderen Rassen des Armygan - lebten gewöhnlich nicht in Dörfern oder Städten, sondern auf ihren Schiffen. Das ständige Reisen kam ihren unsteten Naturen eher entgegen als das Leben an einem einzigen Ort, und zudem konnten sie auf einem Schiff dem Fluß näher sein. Der Körperbau der Otter mit den kurzen Beinen, dem langen Rumpf und dem an Land eher hinderlichen Schwanz machte sie für Arbeit auf festem Boden ungeeignet. Kein Otter konnte wirklich Äcker bestellen, Nägel schmieden, Obst pflücken oder Heu einfahren. Unter allen Rassen waren sie am stärksten an eine bestimmte Lebensweise angepaßt, und diese Anpassung erschwerte ihnen das Leben an Land. Ihr Element war das Wasser, und darin blühten sie auf: flinke braune Schatten, die in der Tiefe dahinhuschten; Gestalten, die in einem silbrigen Schauer aus Wassertropfen heraufschossen und mit einem Satz an Deck standen; quirlige und sehr lebendige Gesellen, so schnell und wendig wie die Fische, so elegant und beweglich wie... wie Otter eben.

Natürlich konnten Otter an Land leben. Sie waren schließlich nicht mit Kiemen ausgestattet, sondern mußten Luft atmen wie ein Ansicc. Aber was eben noch im Wasser ein Musterbeispiel an Eleganz war, wurde an Land zu einem watschelnden Etwas. Auf kurzen Beinen dahinstolzierend, wirkten Otter etwas komisch für Betrachter einer anderen Rasse. Sie waren nicht plötzlich ungeschickt, tolpatschig oder gar tölpelhaft, doch im Vergleich mit den Rassen, die die Götter fürs Laufen geschaffen hatten, waren sie nun einmal nicht gut zu Fuß.

Aus diesem Grund entfernten sich Otter nie weit vom Wasser - was im Armygan allerdings auch kein Kunststück war. Ihre Schiffe waren ihr Zuhause, und man konnte sie ebensooft nebenherschwimmen sehen wie an Deck erblicken. Zum Schlafen mußten die Otter einen sicheren, trockenen Ort aufsuchen, und sie benötigten Frachtraum für die Ladung - ansonsten aber bevorzugten sie ihr Fell naß.

Khiray hatte, als er mit den Ottern gefahren war, ihre Lebensweise kennengelernt. Er schätzte, daß die Otter die halbe Zeit ihres wachen Lebens im Wasser verbrachten. Er selbst war keineswegs wasserscheu, aber sein Fell vertrug ständige Nässe nicht, und ihm wurde beim Schwimmen schnell kalt. Er hatte die trockene Zuflucht der Schiffe bevorzugt. Otter hingegen waren durch ihr Fell fast perfekt isoliert; die Nässe drang nie wirklich bis zu ihrer Haut vor. Nasses Otterfell fühlte sich merkwürdig an, trocken jedoch war es so dicht und weich - obgleich ein wenig fettig -, wie man es sich nur wünschen konnte.

Der Fuchs hatte die Otter am Ende verlassen müssen - weniger, weil er es so mit seinem Vater verabredet hatte, der in Sookandil auf seine Rückkehr wartete, sondern mehr, weil seine Lebensweise und die der Otter einfach zu verschieden war. Nicht, daß die Otter ihn jemals hätten spüren lassen, daß er ein Fremder in ihren Reihen war: ihre herzliche und offene Art ließ nicht einmal für Heimweh Platz. Und es war auch nicht so, daß er für die Otter nur nutzloser Ballast auf den Schiffen war; ganz im Gegenteil, sie waren froh darüber, daß sich jemand freiwillig bereitfand, die 'trockenen' Arbeiten zu übernehmen.

Aber er war ein Außenseiter gewesen; sooft er an ihren Spielen teilnahm, mit ihnen schwamm, mit ihnen aß, mit ihnen das Bett teilte (Lysh hatte immer ein Auge auf ihn, aber sie hätte es nicht übers Herz gebracht, ihren Freundinnen den Spaß zu verderben) - er blieb ein Fuchs unter Ottern. Er konnte sich nicht vorstellen, sein ganzes Leben unter ihnen zu verbringen. Es war einfach zu feucht.

Obgleich die Otter den Fluß bevorzugten, gab es einige Siedlungen dieser Rasse. Die meisten Städte des Armygan - einmal von den düsteren Baumdörfern der Leoparden abgesehen - wurden von mehreren Rassen bewohnt. Es mochte in den Bedürfnissen der Spezies Unterschiede geben, was Größe, Höhe und Geräumigkeit der Häuser anging, Breite der Straßen und Helligkeit der Beleuchtung, Farbigkeit der Mauern und Länge der Betten - doch im Großen und Ganzen waren diese Unterschiede marginal.

Dieses Dorf aber war kompromißlos auf die Bedürfnisse der Otter zugeschnitten. Alle Häuser standen auf Stelzen, etwa drei Viertel davon im Wasser, der Rest am Ufer. Keines der Uferhäuser war weit vom Fluß entfernt. Selbst bei Niedrigwasser hätten höchstens zwei Reihen der Behausungen im Trockenen gestanden. Stege umgaben alle Häuser, die durch schwankende Hängebrücken verbunden waren, ganz so wie im Fischerviertel von Sookandil. So etwas wie Straßen gab es nicht, und in der Anordnung der Häuser war auch kein System zu erkennen. Hausboote ankerten weiter zur Strommitte hin, plumpe schwimmende Behausungen, die weniger dafür gedacht waren, Reisen zu unternehmen, als sich vielmehr dem Auf und Ab des Wasserstandes anzupassen. Es gab gut halb so viele Hausboote wie feste Häuser, und die Standorte der Hausboote änderten sich ständig, je nach den Bedürfnissen der Bewohner.

Dort, wo Treppen nötig gewesen wären, waren Rampen zu sehen - Stufen gefielen den kurzbeinigen Ottern nicht besonders. Strickleitern erlaubten es, aus dem Wasser zu den Häusern hinauf zu klettern. Das war auch schon der einzige Kompromiß, den der wechselnde Wasserstand des Flusses den Ottern aufzwang. Kein Haus hatte mehr als ein Stockwerk. Grünzeug überwucherte die geschwungenen Dächer, aus erdgefüllten Kästen aufragend. Manche der Hausboote sahen aus wie schwimmende Inseln; Hügel aus Pflanzen, die sich bewegten.

Alles war nur auf ein Element ausgerichtet: das Wasser. Das Dorf hatte kein Hinterland; wenige Meter hinter den entferntesten Häusern begann wildes, ungezähmtes Waldland. Die Otter ernährten sich weitgehend von Fisch und den Pflanzen, die am Fluß wuchsen; was sie an Ackerbauprodukten benötigten, kauften sie ein. Ebenso verhielt es sich mit Obstgärten oder Viehhöfen oder Eisenminen oder Köhleröfen: es gab sie einfach nicht. Das Dorf war dem Fluß zugewandt, und dem Fluß alleine; eine trockene Zuflucht für die Otter, ganz anders als alles, was die landbewohnenden Rassen kannten.

Hier lebten diejenigen Otter, die sich zu alt fühlten für lange Reisen, die wenigen, die von Natur aus lieber an einem Platz wohnten, und eine Reihe derer, die nur zeitweise ihre Heimschiffe verlassen hatten. Dazu gehörten Verletzte, die die Ruhe pflegten, aber auch Mütter mit sehr jungen Kindern. Kleine Otter besaßen ein anderes Fell als die Erwachsenen, dichter, aber auch wuscheliger, weniger stromlinienförmig. Obwohl Otter von Natur aus schwimmen konnten, waren die Kleinen zunächst wasserscheu, ein natürlicher Schutz, denn das Fell bildete die nötigen Eigenschaften fürs Schwimmen erst im Laufe der ersten paar Lebensmonate aus. Mit etwa einem halben Jahr wurden sie an den Fluß gewöhnt: Man warf sie einfach ins Wasser.

Das dichte Fell hielt zahllose Luftbläschen fest und verlieh den jungen Ottern - die in diesem Alter noch nicht einmal gehen oder sprechen konnten - einen enormen Auftrieb. Sie fluppten wie Korken an die Oberfläche. Derart vor dem Ertrinken geschützt, trainierten die Otterbabys ihre angeborenen Schwimminstinkte, von den Eltern vor dem Abtreiben oder vor gefräßigen Wasserbewohnern bewahrt.

Natürlich wurden junge Otter auch auf fahrenden Schiffen geboren, ans Wasser gewöhnt und erzogen, aber manche Mütter bevorzugten einfach die Sicherheit stillen Wassers und vertrauten Territoriums für ihre Babys. Vielleicht war das der Grund, weshalb Ottersiedlungen überhaupt gegründet worden waren.

Khiray wußte, daß nur zwei solcher Siedlungen am Otterpfad existierten - zwar lebten viele Otter in der Gegend, doch die meisten bevorzugten Schiffe als Heimat. Tatsächlich gab es etwa dreimal so viele Otter in dieser Region des Armygan wie Angehörige aller anderen Rassen zusammengenommen. Um Dorns Schnellen herum und ein ganzes Ende nordwärts gab es gar keine anderen Felligen; deren Dörfer zogen sich nur entlang des südlichsten und nördlichsten Teils dieses Nebenstroms hin. Mit einer Ausnahme: Bärenberg, eine isolierte Gemeinde, in der weitgehend Bären lebten. Bärenberg hielt praktisch nur über Otterschiffe Kontakt zur Außenwelt; die einzelgängerischen und verschlossenen Felligen liebten keine Gesellschaft.

"Man sieht nicht oft Fremde hier", bemerkte der Sprecher der Otter. Obgleich es in einer Ottergemeinschaft nur selten jemanden gab, der einem Gouverneur, Fürsten oder Führer gleichkam, kannten die Wasserbewohner doch so etwas wie Kapitäne - Fellige, die den Kurs oder die Tagesarbeit bestimmten, die Streitigkeiten schlichteten oder in Notfällen entschieden, was zu tun war. Das mußte nicht immer derselbe Otter sein; jemand, der sich für fähig genug hielt, übernahm das Ruder dann, wenn ein Anführer benötigt wurde, und wenn die anderen Otter ihn ebenfalls für kompetent erachteten, folgten sie seinen Anweisungen. Saswin hatte diese Methode immer mit Mißtrauen beäugt - seiner Meinung nach konnte so ein System nur im allgemeinen Chaos enden. Aber Khiray wußte aus Erfahrung, daß es funktionierte. Vielleicht mochte es für Füchse oder Dachse oder Hirsche nicht geeignet sein, aber für Otter war es ein wirksames Vorgehen.

In diesem Fall war Fryyk der Sprecher, ein recht junger Otter mit rostbraunem Fell und strahlend grünen Augen. Er war größer als Lysh, im Stehen fast so groß wie Saljin - Otter zeichneten sich nicht unbedingt durch Körpergröße aus..

Die Fuchstaurin wurde von allen Ottern umringt und bestaunt. Ein älterer Otter meinte, daß er in Drun'kaal schon einmal Fuchstauren gesehen hatte und daß sie dort nicht einmal besonders selten waren, wenn auch nicht so häufig wie Men'schin - alle paar Wochen legte ein Schiff der Vierbeiner in der Hauptstadt an.

"Bewohner des Goldenen Ufers", erklärte Saljin Khiray. "Dort im Süden pflegt man die Schiffahrt, obwohl die salzige Seeluft nicht gut für das Fell ist. Es gibt Inseln im Meer, südlich der Cayvol-Berge, die diese seefahrenden Fuchstauren besiedelt haben." Khiray staunte einmal mehr über die Vielfalt von Saljins Welt, die dem Armygan in nichts nachstand, und ärgerte sich, daß er während seiner Zeit in Drun'kaal nichts von den Fuchstauren gesehen hatte.

"Wir sind in Schwierigkeiten", eröffnete Khiray Fryyk, nachdem die Aufregung der Begrüßung abgeebbt war (einige sehr junge Otter kletterten über Saljins Rücken, aber die Fuchstaurin ließ sich die Späße der Kleinen gerne gefallen).

"Hm", machte Fryyk und hob die Augenbrauen. Jung mochte er sein, aber er hatte anscheinend schon Erfahrungen gesammelt: er machte keine Versprechungen, ehe er nicht die ganze Geschichte kannte.

Sie versammelten sich um ein hastig errichtetes Feuer - es war heller Tag, doch auf diese Weise konnten die Otter ihren Gästen gebratenen Fisch servieren, während Khiray ihnen von den Ereignissen in Sookandil berichtete. Die Otter lauschten mit aufgerissenen Augen: Dämonen? Korrupte Gouverneure? Schlachten und Massaker? Das hörte sich nicht wie ein Tatsachenbericht an, sondern wie eine Abenteuererzählung. "Große Fische", murmelte manch einer, was unter Ottern soviel bedeutete wie 'Anglerlatein'.

Aber der zungenlose Sarmeen konnte Zeugnis von den Grausamkeiten seines Bruders ablegen. Er brachte zwar kaum ein verständliches Wort hervor, doch er selbst war ein lebender Beweis. Pallys führte einige magische Tricks aus seinem Repertoire vor, und bald waren die meisten Otter überzeugt. Für ihre Ohren hörte sich alles zwar immer noch wie eine Lügengeschichte an, aber wenn es eine war, dann trieben die Lügner reichlich Aufwand, um sie glaubwürdig zu gestalten.

Dämonen.

Beunruhigt beobachteten die Otter, wie Pakkaht wachsam um die versammelte Runde schritt, die Augen und Ohren auf den Wald gerichtet, die Waffe immer in der Hand. Der Hirsch hatte darauf bestanden, daß die ganze Besatzung ihre Waffen trug. Kinnih wirkte etwas verloren mit dem großen Schwert, das Pakkaht ihm ausgehändigt hatte, und Khiray fühlte sich nicht allzu wohl mit dem Dekka'shin, das er ja eigentlich gar nicht beherrschte. Aber Saljin trug ihre Waffe mit großer Selbstverständlichkeit; auch Pallys schien das Gewicht des tödlichen Stahls an seiner Seite kaum zu spüren, und die Ratten liefen sowieso nie ohne eine Sammlung von kleinen Dolchen und Messern herum.

"Es ist euch unmöglich, die Dämonen zu vernichten?" fragte Fryyk.

"Das ist eine Aufgabe für Magier", brummte Pallys. "Es ist nicht wirklich unmöglich, nein, nicht, wenn es um die niederen Dämonen geht." Er drehte gedankenverloren den Stab in seinen Händen, mit dem er die Bärendämonen aufgehalten hatte. "Man kann sie aufhalten. Mit Glück und Geschick kann man die Körper töten, die sie bewohnen."

"Warum tun wir das dann nicht?" platzte Kinnih heraus.

Pallys warf ihm einen düsteren Blick zu. "Auf mein Glück möchte ich mich nicht verlassen. Was für einen Felligen eine tödliche Wunde ist, schwächt einen Dämonen nur. Gewöhnliche Verletzungen, die uns kampfunfähig machen, spürt ein Dämon nicht einmal. Man muß diese Wesen in Stücke hacken, ehe sie ihren Geist aufgeben. Und selbst dann sind sie nicht wirklich tot."

"Nicht tot?" wiederholte der junge Dachs atemlos.

"Dämonen sind Geschöpfe eines Äons vor unserer Zeitrechnung. Im Zeitalter Perennion, das das dritte der acht Zeitalter ist, führten Sharridh der Former und Alkhumaln der Unformer Krieg gegeneinander. Es heißt, sie gerieten in Streit darüber, wie den Ersten Wesen Gestalt zu geben sei. Der Konflikt brachte den Leviathan hervor, die Lehmgeschaffenen, die Arkanen - und die Dämonen. Das bedeutet, die Dämonen sind direkt den Ersten Wesen entsprungen und gehören zu den ältesten Kreaturen des Multiversums. Nur die Aryonamai und natürlich Yasitan der Ur-Erste und seine Kinder Sharridh und Alkhumaln selbst sind älter, und sie gehören zu den Netzgeschaffenen." Pallys zupfte nervös an seinen Ohren, als bereite ihm das Erzählen dieser Geschichte aus längst vergangenen Tagen Unbehagen. Khiray verstand kein Wort. Er wußte zwar, daß man verschiedene Zeitalter unterschied, doch diese alten Erzählungen handelten von Göttern und Überwesen, und für diese Mythen hatte der Fuchs nie viel Geduld aufgebracht. Das waren Legenden, in denen sich Wahrheit und Phantasie so gründlich mischten, daß man das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden konnte. Es gab unzählige Versionen davon, und wenngleich Khiray nicht ausschloß, daß sich irgendwo darunter eine große, elementare Wahrheit verbarg, hielt er es doch für unmöglich, sie zu finden. Er bevorzugte handfeste Fragen und Antworten anstelle der nebelhaften Mythologie, die die Vergangenheit des Multiversums verschleierte.

Aber die Dämonen entsprangen eben dieser nebelhaften Mythologie, und sie waren ganz sicher ein handfestes Problem.

"Die Dämonen sind so alt, daß sie nach anderen Gesetzen geschaffen wurden als die meisten anderen Geschöpfe, und auch nach anderen Regeln leben. Ihre Fähigkeiten sind - gewaltig. Sie beherrschen Magie auf eine Weise, die nicht einmal die besten Magier des Armygan nachvollziehen können. Magie fließt wie Blut durch ihre Adern. Sie sind - für unsere Sphäre - nicht direkt materiell, aber sie können Körper annehmen, formen oder sich in Illusionen hüllen. Es gibt Tausende von verschiedenen Arten der Dämonen, alle mit anderen Fähigkeiten und Stärken. Ich kenne nur wenige davon, und ich weiß nicht, welchen wir gegenüberstehen. Nur Azzhuzzim Beladanar ist mir bekannt. Der Herr der Würmer ist einer der Mächtigen im zweiten Kreis der Hölle, einer der jüngeren Dämonen. Ich weiß noch weniger über die Höllenkreise als über die Dämonen selbst, aber mir ist bekannt, daß zwischen den Kreisen der Hölle ein immerwährender Kampf herrscht, der mal offen und mal verdeckt ausgefochten wird. Alkhurridh, der Herr des ersten Kreises, würde sicherlich an Status verlieren, wenn es Azzhuzzim Beladanar gelingt, sich frei in unserer Sphäre zu bewegen. Die Dämonen haben schon immer ein Auge auf die Sphäre Nesond geworfen."

"Alkhurridh", sinnierte Kinnih, ganz und gar gefangen in den phantastischen Bildern, die die Erzählung ihm vorgaukelte. "Das hört sich so ähnlich an wie Alkhumaln... und auch wie Sharridh."

Pallys nickte langsam. "Als damals im Dritten Zeitalter der Krieg zwischen Alkhumaln und Sharridh seinen Höhepunkt erreichte, verschmolzen beide zu einem einzelnen Wesen: Alkhurridh. Alkhurridh wußte, daß Yasitan der Ur-Erste ihm seinen Platz als Former und Unformer nehmen würde, und so scharte er die Dämonen um sich und besiedelte die Ebene Urghod in der Sphäre Khurun. Das ist die zweite der sechs Sphären des Multiversums, ein sehr ungastlicher Ort der Furcht und der Felsen. Der von Dämonen besiedelte Teil Urghods wird seit alters her Hölle genannt.

Alkhurridh herrschte unangefochten für Äonen, bis im sechsten Zeitalter, Thumon, die Unzufriedenheit der Dämonen zu einem Krieg unter ihnen führte. Die Hölle wurde in neun Kreise unterteilt. Alkhurridh behielt seine Macht im Ersten Kreis, dem mächtigsten von allen, aber er verlor die Kontrolle über die übrigen Kreise."

"Was taten die Götter?"

"Die Götter existierten damals noch nicht einmal. Sie wurden erst im Siebten Zeitalter, Faraigon, geboren, genau wie die Erzengel." Pallys zuckte die Achseln. "Aber all das ist lange her. Die Geschichten helfen uns nicht weiter. Wir wissen nicht, was die Dämonen vermögen, die uns gegenüberstehen - das ist wahrscheinlich nicht einmal Galbren klar. Und selbst wenn wir es wüßten, haben wir keine Möglichkeit, sie zu töten." Er hob den Stab. "Die Energie dieses magischen Spielzeugs ist begrenzt. Andere Mittel habe ich nicht, und ich kann keine neuen schaffen. Ich bin kein Magier. Und selbst gegen die körperlichen Manifestationen der Bären-Dämonen können wir nicht ankommen. Sie sind ungeheuer stark und kämpfen mit verheerender Wut."

Fryyk schüttelte den Kopf. "Was haben wir mit alldem zu tun? Wir haben hier keinen Magier, der euch helfen könnte. Du hast gesagt, ihr wollt nach Drun'kaal reisen, um die Magier des Drunfürsten zu bemühen. Das scheint mir eine vernünftige Lösung zu sein. Wenn ihr etwas braucht - Vorräte, Medizin -, so können wir euch damit dienen. Aber darüber hinaus weiß ich nicht, wie wir Otter euch nützen können."

"Ich hatte gehofft, Otterschiffe mieten zu können", stellte Khiray fest. "Mit der 'Silbernen Ansicc' können wir Dorns Schnellen nur schwer überwinden."

Einer der Otter murmelte: "Sie nennen die Schnellen immer noch nach einem, der darin ertrunken ist. Ich werde die Langbeiner nie verstehen!"

Der Sprecher der Otter nickte, während er den Dampfer musterte. "Das könnte schwierig sein."

"Aber nicht unmöglich!" rief Kinnih lebhaft. "Khiray hat es gesagt!"

"Nicht unmöglich, nein." Fryyk dachte nach. "Aber leicht... Nun, ich verstehe wenig von so großen Schiffen. Was die Otterboote angeht... Ihr seht selbst."

In der Tat. Das einzige Schiff, das an dem kurzen Steg vertäut war, war die 'Silberne Ansicc' selbst. Es waren keine größeren Otterschiffe vorhanden, alle waren unterwegs. Nur ein paar kleine Boote dümpelten träge im Gewirr der Stützpfeiler. Natürlich gab es die Hausboote, aber die waren nicht für große Fahrten geeignet. "Ihr werdet wahrscheinlich auf andere Otter treffen, weiter flußabwärts. Vielleicht könnt ihr von ihnen ein Schiff mieten."

Khiray ließ den Kopf hängen. "Ein Schiff mit Ladung? Abseits eines Hafens? Kein Kapitän läßt sich auf so einen verrückten Handel ein. Ich würde mein Schiff jedenfalls nicht freiwillig mitten auf dem Fluß gegen ein anderes tauschen."

Fryyk seufzte. "Das ist wirklich ein sehr ungewöhnliches Ansinnen. Aber wir Otter sind auch kein gewöhnliches Volk. Es mag sein, daß eine Familie stromab auf einen solchen Handel eingeht."

Der Fuchs versuchte sich vorzustellen, wie der Tausch vonstatten gehen würde. Zunächst mußten sie überhaupt auf ein Otterschiff stoßen. Da sie mit Höchstgeschwindigkeit stromab fuhren, würden sie kaum auf Schiffe treffen, die in dieselbe Richtung reisten - weder konnte der Dampfer viele der flinken Otterschiffe einholen, noch würden die Otter sich auf ein Rennen mit der 'Silbernen Ansicc' einlassen. Das bedeutete, daß sie nur mit Ottern reden konnten, die ihnen entgegenkamen oder irgendwo vor Anker lagen. Und das wiederum hieß, daß sie stoppen und beidrehen mußten, ehe sie auch nur ein Wort mit den Ottern wechseln konnten. Wenn einer von zehn Kapitänen sich auf den Tausch einließ, was Khiray insgeheim bezweifelte, mußten sie etliche Male anhalten. Und selbst wenn sie schließlich einen geschäftstüchtigen Kapitän gefunden hatten, mußte der noch die Zustimmung seiner Familie und aller anderen Otter, die an Bord arbeiteten, einholen. Kein Kapitän konnte eigenmächtig und willkürlich über das Schicksal seines Schiffes bestimmen.

Mit dieser Suche konnten sie leicht die ganze Zeit wieder vergeuden, die sie durch das Befahren des Otterpfads gewannen. Nein, auf solche Eskapaden konnten sie sich nicht einlassen. Wenn sie hier kein Otterschiff bekamen, mußte die 'Silberne Ansicc' eben genügen. Khiray war zuversichtlich, daß er es schaffen konnte...

...zuversichtlich, bis auf diesen kleinen lästigen Rest von Zweifeln, der an ihm nagte. Dorns Schnellen waren gefährlich. Er kannte die Gewalten des reißenden Flusses. Selbst ein Sechzig-Meter-Dampfer wurde dort zum Spielball der Wellen.

Und dies war ein tödliches Spiel.

"Nein, ich danke euch, aber wir haben nicht die Zeit für weitere Stops. Ich hatte gehofft, Kinnih und Delley nach Farlish zurückschicken zu können, vielleicht auch Shooshun, Pakkaht und Kaslin-Ray, und nur mit Saljin, Sarmeen und Pallys weiterzureisen."

"Hey!" protestierte der junge Dachs. "Wir gehören doch zur Mannschaft."

Khiray schlug die Augen nieder. "Sicher, sicher. Um die 'Ansicc' zu fahren, brauche ich euch alle, besonders wenn wir die Schnellen durchqueren. Aber wenn wir ein Otterboot hätten, wäre das alles nicht nötig... ich will keinen von euch in Gefahr bringen."

"Du wirst uns alle brauchen, wenn die Dämonen angreifen", rief Kinnih. "Du kannst sie nicht alleine bekämpfen."

"Niemand kann die Dämonen bekämpfen, junger Narr!" grollte Pallys. "Khiray hat recht. Ihr habt mit alldem nichts zu tun."

Fryyk hob die Schultern. "So, wie sich die ganze Sache anhörte, spielt das keine große Rolle, oder? Dieser Galbren scheint von der rachsüchtigen Sorte zu sein. Er vergißt niemanden, auch wenn der nur Schiffsjunge auf eurem Dampfer war."

"Er hat recht", bemerkte Kinnih aufgeregt. "Er wird sich an mir genauso rächen wollen, wenn er mich in Farlish erwischt!" Er hörte sich so an, als sei dies eine wünschenswerte Aussicht. "Wir hängen alle zusammen drin. Entweder wir schaffen die ganze Fahrt, oder die Dämonen töten uns. Es ist genau wie in den Geschichten - alles oder nichts! Dieses Schiff und diese Mannschaft, wir gehören alle zusammen!"

Der Fuchs starrte Kinnih überrascht an. Khiray konnte sich selbst in diesen Worten wiedererkennen. Vor einigen Wochen noch hätte er genauso gedacht. Wie in den Geschichten. Ein Abenteuer, das es mit Enthusiasmus und Überschwang zu bestehen galt. Würze in einem ansonsten ereignislosen Leben.

Aber der eisige Schatten des Todes war auf ihn gefallen. Das Abenteuer war eben nicht so wie in den Geschichten. Er konnte sterben. Oder schlimmer, Kinnih konnte sterben, und er selbst würde den Tod des jungen Dachses für immer auf sich lasten spüren. Kinnih wußte nicht, wie es war, um sein Leben zu kämpfen; er war unerfahren und übermütig.

Der mögliche Tod seiner Gefährten, stellte Khiray fest, bedrückte ihn mehr als sein eigener. Er hatte seinen Pfad gewählt - und dabei zugleich ihrer aller Schicksal bestimmt. Und ganz gleich ob er dazu ein Recht hatte oder nicht, es war zu spät, sich anders zu entscheiden. Darin hatte Kinnih recht: sie mußten zusammen kämpfen oder untergehen.

Sein Blick wanderte unwillkürlich hinüber zu Saljin. Die Fuchstaurin hatte den größten Verlust erlitten, und zudem war sie fern ihrer Heimat. Und dennoch wirkte sie so gelassen, wie man es nur sein konnte. Sie besaß die Ruhe des Kriegers. Khiray wünschte sich, auch so gefaßt in die Zukunft sehen zu können. Aber er hatte zuviel Angst. Er fürchtete den Tod, und vielleicht noch mehr den Ruf des Dämons Khezzarrik khi Valangassis.

"Traute Eintracht", sagte eine Stimme. "Ich hatte nicht erwartet, so schnell auf unsere Widersacher zu treffen." Die Stimme gehörte zu einem Wolf, oder vielmehr zu einem Wesen, das einem Wolf ähnelte - das zerfressene Fell, die stumpfen Augen, der Verwesungsgeruch und die skelettartige Gestalt, um die herum die Haut schlackerte wie ein loser Sack, machten deutlich, daß dies kein gewöhnliches Exemplar seiner Spezies war. Ein Wolf in diesem Zustand wäre tot umgefallen. Darüber hinaus war er, Pakkahts Wachsamkeit zum Trotz, wie aus dem Nichts aufgetaucht.

Ein Dämon. Khiray wußte es, noch ehe er in den Gesichtszügen den alten Gouverneur Chinnap wiedererkannte. Chinnap war tot. Ob der Dämon sich seines Leichnams bemächtigt hatte oder nur seine Gestalt nachahmte? Der beabsichtigte Effekt jedenfalls trat ein. Die unbewaffneten Otter stoben auseinander. Kinder kreischten und stürzten sich ins Wasser. Nach Sekunden standen Khiray und seine Mannschaft allein am Feuer.

"Va'er?" murmelte Sarmeen unsicher, unfähig, die Silben mit seiner verstümmelten Zunge richtig zu bilden.

"Mein liebster Junge!" Der Wolf strahlte. "Ich werde deine Ohren deinem Bruder als Zimmerschmuck schenken."

Sarmeens Miene verfinsterte sich. Er zischte dem Leichnam seines Vaters ein paar Beleidigungen entgegen, die Khiray nicht verstehen konnte. Der Dämon hingegen schien zu wissen, was Sarmeen meinte, denn er lachte schallend. "So kreativ, mein Junge! So begabt! Ich bin sicher, du hättest einen vorzüglichen Gouverneur abgegeben. Natürlich bist du dir darüber im Klaren, daß nicht einmal Galbrens Tod dir noch zu meinem Posten verhelfen kann."

"Genug der Spielchen!" brüllte Pallys. "Du bist nicht Chinnap! Nenne deinen wahren Namen!" Das Kaninchen hielt den kurzen Stab in der Hand, den er schon gegen die Bären in Sookandil eingesetzt hatte, aber der Dämon ließ sich dadurch nicht beunruhigen.

Der Wolf verbeugte sich. "Ich werde Hhrugha khi Dmurag genannt. Meinen wahren Namen kann ich Euch natürlich nicht nennen. Ihr könntet ihn sowieso nicht aussprechen. Aber dieser soll vorerst genügen. Ihr dürft ihn schreien, während ich euch in die Hölle schleife." Er kratzte sich am Kopf. "Azzhuzzim Beladanar hat befohlen, euch lebendig zu ihm zu bringen. Ich denke, wir alle werden vorzüglich speisen. Euer Leiden wird so exquisit sein, wie nur Beladanar es bereiten kann. Er ist ein Künstler, ein Gourmet der Qualen."

Khiray versuchte nachzudenken. Die 'Silberne Ansicc' stand noch unter Dampf, doch die Maschinen liefen nicht. Bis sich das große Schiff in Bewegung gesetzt hatte, wäre Hhrugha an Bord gelangt. Der Dämon konnte sie nach Belieben töten. Es gab nicht einmal einen Fluchtweg über Land, nur den undurchdringlichen Wald.

Und wenn sie fliehen konnten, so würde der Dämon seinen Unmut an den Ottern auslassen, die Hilflosen abschlachten, und die Verfolgung aufnehmen. Die Otter wußten zuviel. Hhrugha konnte sie nicht am Leben lassen - wenn er das überhaupt gewollt hätte.

So oder so, sie hatten keine Wahl. Sie mußten den Dämon vernichten und hoffen, daß er der einzige in der Gegend war. Khiray versuchte zu ignorieren, was das Auftauchen Hhrughas zu bedeuten hatte...

...überall, sie können überall erscheinen...

...und sammelte seine Kräfte für den Kampf.

* * *

Der Wolf grinste und bleckte dabei faulige schwarze Zähne. "Ich würde euch gerne beschreiben, was euch erwartet, aber ganz gleich, was ich sage, Beladanar wird es noch übertreffen. Ich kann euch nur versprechen, daß es lange dauern wird. Und zwischen unseren Mahlzeiten wird man euch vielleicht erlauben, die Qualen eurer Freunde mitzuerleben, in einem exquisiten Käfig in den Palästen der Hölle." Er fuhr sich mit den Krallen durch das Fell. Klebrige Büschel schmutzigen Haares lösten sich von der verwesenden Haut und schwebten zu Boden. "Wir werden uns eurer annehmen, in jeder denkbaren Gestalt, auf jede nur mögliche Weise. Unsere Leckerbissen." Die glasigen Augen nahmen einen träumerischen Ausdruck an. "Und ich werde die besten Augenblicke genießen für meine Leistung. Ich habe euch gefunden. Meine Belohnung wird unermeßlich sein."

Sarmeen ließ ein Grollen tief aus seiner Kehle hören. Diesen Laut konnte keine fehlende Zunge verstümmeln: es war ein Ausdruck reinsten Hasses.

Der Dämon in der Maske seines toten Vaters kicherte. "Du, mein liebster Sohn, wirst unseren Appetit nicht lange befriedigen. So zart, so empfindlich - du warst nie ein Krieger. Du hättest einen so schönen und eleganten Plan, wie dein Bruder ihn gerade in die Tat umsetzt, nicht ersinnen können. Wie kann man nur an so altmodischen Werten wie Ehre und Großmut festhalten? Hättest du dich mit Galbren zusammengeschlossen, wie er es vorschlug, wäre dir all das erspart geblieben. Aber du mußtest ihn ja beleidigen, oder? Was blieb ihm denn für eine andere Wahl? Tut mir leid um deine Zunge, aber du wirst sicher noch andere Körperteile verlieren, ehe wir dich ins ewige Nichts schicken." Er wandte sich Saljin zu. "Und du, mußtest du dich diesem Rebellen anschließen?" Er gestikulierte in Khirays Richtung. "Du hättest mit deinem Volk untergehen sollen. Das wäre schmerzlos und schnell gegangen. Daß die Lebenden immer so am Leben hängen müssen! Als würde es auf der Welt nicht sowieso von Sterblichen wimmeln. - Aber ich will mich nicht beklagen. Du bist höchst appetitlich für armes, sterbliches Fleisch. Viele hundert Ushinki werden die Mühe auf sich nehmen, diese weichen, nutzlosen Hüllen überzustreifen, um dich auf eure groteske Art zu nehmen und dabei deine Verzweiflung, deinen Schmerz und deine Hoffnungslosigkeit zu trinken. Vielleicht ketten wir dich an ein Podest in Beladanars feinster Halle, mit schönen eisernen Fesseln, als Zeichen für Beladanars Sieg. Jeder Besucher wird von dir kosten können, so Beladanars Großzügigkeit will." Der Dämon spielte mit seinen Schwertern. Er trug zwei davon, und beide meinte Khiray als Trollstahl-Waffen zu erkennen. Dann ruckte der Kopf des Wesens herum, und Hhrugha starrte ihm in die Augen. "Was unseren kleinen Rebellen angeht, so kann ich mir noch nicht einmal vorstellen, was sich Beladanar für dich ausdenken wird." Er schnüffelte in der Luft, dann lächelte er mit fauligen Lippen. "Zweifellos wird er es dir ermöglichen, deine kleine Freundin in jedem Augenblick ihres schmackhaften Leidens zu beobachten, von deinem eigenen komfortablen Käfig aus. Oh, das wäre wundervoll! Die Qual der Seele ist um so vieles süßer als bloßer körperlicher Schmerz! Du wirst mit ihr leiden und durch ihr Leiden und deine Hilflosigkeit gedemütigt werden, und ihr Schmerz wird doppelt exquisit durch das Wissen, daß jeder ihrer Schreie dir bis ins Mark dringt. Und dann, wenn Beladanar nach vielen Monaten des Genusses seines vierbeinigen Spielzeugs überdrüssig ist, dann wird erst deine eigene Qual beginnen." Hhrugha kratzte sich am Ohr. "Natürlich entscheidet allein Beladanar über solche Dinge."

"Genug!" rief Khiray schneidend. Der Vortrag des Dämons hatte ihn getroffen, beinahe gelähmt. Derart grausige Bilder anzupreisen wie eine Mahlzeit in fünf Gängen... Er wollte nicht daran denken, daß sie vielleicht genau das für die Dämonen waren. Eine Mahlzeit.

Aber Hhrugha redete nur und redete, anstatt anzugreifen. Und er mußte wissen, daß keiner von ihnen, mit einem solchen Schicksal vor Augen, sich lebend gefangennehmen ließe. Der Dämon war allein. Er konnte sie nicht überwältigen und in die Hölle schleppen, ohne sie zu töten, und so zögerlich, wie er handelte, hatte Khiray den Eindruck, daß eher Hhrugha der Getötete sein würde. Vielleicht war er ein minderer Dämon, vielleicht konnte Pallys' Magie seinem Unleben ein Ende setzen.

Natürlich! Hhrugha tat nichts anderes, als Zeit zu schinden. Er wartete...

...wartete auf die Ankunft seiner Verstärkung, auf andere Dämonen, darauf, daß Tor die Passage wieder öffnete.

"Fryyk!" brüllte Khiray. "Bring alle Otter auf das Schiff, schnell!" Noch ehe er seinen Satz vollendet hatte, stürmte er los, das Dekka'shin im Halbkreis geschwungen, wie er es bei den Fuchstauren gesehen hatte. Hhrugha grunzte überrascht und konnte gerade noch seine Schwerter heben, sonst hätte Khirays Angriff seinen Kopf von den Schultern getrennt. "Delley, Kinnih! Macht die Maschinen klar! Wir müssen hier weg!"

Die Ratte und der Dachs gehorchten und eilten zur 'Silbernen Ansicc'. Pakkaht, Sarmeen, Saljin und Kaslin-Ray stürmten vorwärts und schlossen zu Khiray auf. Shooshun blieb unschlüssig am Feuer stehen. Der ältliche Kater war kein großer Kämpfer. Pallys nahm seinen Stab und packte mit der Linken das Ende eines brennenden Astes. Der Fuchs konnte nicht sehen, ob Fryyk seinem Befehl folgte. Wußte der Otter, in welcher Gefahr die Siedlung schwebte? Würden die individualistischen und manchmal etwas eigensinnigen Otter rechtzeitig die Flucht ergreifen?

Tor würde mehr Dämonen hierher bringen. Es war nur eine Frage der Zeit. Wie lange brauchte Khezzarrik khi Valangassis, um die 'Ebenen und Sphären' zu durchdringen? Khiray hatte keine Ahnung, wie diese Tore funktionierten; er konnte nur raten. Khezzarriks Gestalt war noch nicht aufgetaucht; auch als Hhrugha erschienen war. Es mußte einige Zeit dauern, diese Magie zu vollbringen, sonst hätten die Dämonen sich leicht auf dem Schiff materialisieren können.

Von fünf Kämpfern bedrängt, wich der Dämon hastig zurück. Er war gut mit den Schwertern, aber mit so vielen Gegnern konnte er es nicht aufnehmen. Khiray ließ von dem Wolf ab. Er war kein Meister des Dekka'shins; warum sollte er die anderen behindern und ihnen im Weg stehen? Es gab Wichtigeres zu tun. Fryyk diskutierte mit einer Gruppe Otter. Khiray eilte zu ihnen hinüber.

"Ihr müßt sofort verschwinden!" herrschte er sie an. "Dieser Dämon ist nicht allein! Andere werden gleich hier sein! Wir müssen sofort ablegen!" Die Otter starrten ihn ungläubig an, bis er sie in Richtung Schiff schob. "Beeilung! Sie werden jeden töten, der noch hier ist!" Oder vielleicht würden sie niemanden töten, was bei weitem die schlimmere Aussicht war.

"Unser Dorf!" brachte ein Otter hervor.

"Die Siedlung ist verloren. Der Feind ist schon da." Khiray wies auf die Kämpfenden. "Ihr müßt fliehen, sofort!" Angesichts der halsstarrigen Otter überkam ihn Verzweiflung. Hier waren mindestens achtzig, vielleicht sogar hundert Fellige - Kinder darunter, Verletzte, Mütter. Viele hatten sich beim ersten Anblick einer Waffe versteckt. Sie hatten nicht einmal Zeit, ihre notwendigste Habe einzusammeln, sie mußten gehen, jetzt!

"Wir können unsere Häuser nicht im Stich lassen!" sagte Fryyk. "Wir haben lange daran gearbeitet. Es wäre ein Jammer darum."

"Es wäre ein Jammer um eure Pelze, aber wenn sie erst einmal die Fußböden von Dämonenpalästen zieren, ist es zu spät!" Er starrte grimmig in Fryyks Gesicht. Plötzlich wurden die Augen des Otters groß und rund, und er sah an Khiray vorbei.

Khiray drehte sich um. Pallys hatte damit begonnen, mit der improvisierten Fackel alles Brennbare in Flammen zu setzen. "Ihr Narren!" rief das Kaninchen. "Die Dämonen werden keinen verschonen!" Otter stoben aus ihren angezündeten Häusern. Ein paar Gruppen machten sich tatsächlich daran, die 'Silberne Ansicc' zu besteigen. Verwirrt und verängstigt schoben sich die Otter durcheinander.

Fryyk klappte die Schnauze auf, schloß sie wieder, dann schüttelte er den Kopf. "Verflucht sei der Tag, an dem wir euch haben anlegen lassen", sagte er traurig.

Khiray überließ es ihm, die Evakuierung zu beaufsichtigen und dafür zu sorgen, daß niemand zurückgelassen wurde. Er hielt Ausschau nach einem Zeichen, daß sich ein Tor öffnete. Aber es war nichts zu sehen.

Hhrugha hielt sich immer noch gegen seine vier Gegner. Er hatte zahlreiche Wunden empfangen, doch wie Pallys gesagt hatte: sie behinderten ihn nicht. Er blutete nicht; sein Fleisch klaffte auf und enthüllte fauliges Gewebe. Sein halber Kiefer war zertrümmert und hing lose herab, doch das einzige Resultat dieser Verletzung war, daß er seine Angreifer nicht mehr mit Flüchen bedachte.

Kein Wunder, daß die Fuchstauren sich gegen die beiden Dämonen-Bären nicht hatten halten können. Schon dieser eine Dämon war ein harter Brocken. Noch während Khiray hinsah, gelang Saljin ein entscheidender Schlag. Der rechte Arm Hhrughas fiel abgetrennt zu Boden. Kaslin-Ray sprang hin und entwand den zuckenden Fingern das Trollstahl-Schwert. Er nahm sich nicht die Zeit, seine Erwerbung zu bewundern, sondern stieß die Waffe sogleich von unten in den Wolfskörper. Im selben Moment traf ein furchtbarer Hieb von Pakkaht den Hals des Dämons. Der Schädel sprang förmlich von den Schultern und rollte über den Boden. Die vier unverletzt gebliebenen Kämpfer machten einen Schritt zurück. Der Wolfskörper wedelte hilflos mit dem verbliebenen Arm, ließ das Schwert in blinder Wut durch die Luft sausen und stürzte endlich schwer zu Boden.

Pallys hatte unrecht gehabt. Es war möglich, einen Dämonen zu töten.

Ein dumpfes Brummen lenkte Khirays Aufmerksamkeit ab. Dort hinten am Waldrand, zwischen den Bäumen - flimmerte dort nicht die Luft? War das das erste Zeichen dafür, daß Khezzarrik ein Tor schuf?

Er wandte sich um. Die Otter schienen sich jetzt darauf geeinigt zu haben, die Flucht zu ergreifen. Niemand machte den Versuch, die brennenden Häuser zu löschen. Die Feuer würden sowieso von selbst erlöschen; das saftige Grün, das viele Behausungen umgab, begrenzte den Brand. Aber Pallys' Tat hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Das Kaninchen stand mit hängenden Ohren am Strand und starrte die flüchtenden Felligen an. Khiray wußte, daß sein alter Lehrer das Ende der Siedlung bedauerte. Aber sie hatten keine Wahl. Khiray wußte nicht, ob Tor sie aufgespürt und Hhrugha deshalb hier abgesetzt hatte, oder ob der Wolfsdämon nur zufällig als Scout in die Ottersiedlung geschickt worden war, um nach ihnen zu fragen und den Fluß zu beobachten. Er vermutete letzteres; warum sonst wäre der Dämon allein gewesen? Die Kräfte des Bösen hatten einfach Glück gehabt.

Es war möglich, daß Hhrugha die Otter in Ruhe gelassen hätte, wenn die 'Silberne Ansicc' hier nicht gelandet wäre. Galbren konnte es sich nicht erlauben, zuviel Aufmerksamkeit und Unruhe zu erregen. Aber andererseits waren die Dämonen grausam und gierig nach den Schmerzen anderer; sie mochten Galbrens Pläne ignorieren, die Otter niedermetzeln und den Zorn der Erzengel in ihrer Gier riskieren.

Aber ganz gleich, was vielleicht gewesen wäre - es war zu spät, die Dinge zu ändern, und nun würden die Dämonen die Otter als Mitwisser ganz sicher nicht verschonen.

Ein heftiger Fluch ließ ihn herumfahren. Pakkaht hatte ihn ausgestoßen. Er eilte zu der Stelle hinüber, wo die Leiche des Dämons lag.

Oder besser, gelegen hatte. Arm, Kopf und Körper hatten sich in drei Haufen gallertiger Masse verwandelt, ähnlich einer Seequalle: ein halbdurchsichtiges, graues Gebilde, das von schmierigen Schlieren durchzogen wurde und aus sich selbst heraus langsam pulsierte. Doch diese Quallen waren nicht hilflos wie Wassertiere an Land: sie begannen über den Boden zu kriechen, aufeinander zu. Das, was einmal der Körper gewesen war, formte schaumige Blasen an seiner Oberfläche.

Kaslin-Ray hob das Trollstahl-Schwert und stieß es in die größte der Quallen. Der Dämon erbebte und schüttelte sich. Die Waffe glitt bis zur Hälfte der Klinge in die Masse hinein. Die Ratte riß an dem Schwert, um es wieder freizubekommen, doch vergebens: nun hielt der Dämon es fest. Graue Materie schoß plötzlich in die Höhe, blubberte um das Schwert herum und verschlang es - und mit ihm Kaslin-Rays Hand.

Die Ratte schrie auf, ließ das Schwert los und warf sich nach hinten, um der Umklammerung zu entgehen, doch die Gallerte hatte sich fest um sein Handgelenk gewunden. Saljin packte Kaslin-Rays Schultern und zog, aber der Dämon - war dies seine wahre Gestalt? - erwies sich als stärker. Die glitschigen Tentakel waren zäh wie geteerte Taue. Khiray und Pakkaht hieben mehrmals mit ihren Waffen auf das Wesen ein, aber sein Griff ließ sich nicht brechen.

Ein plötzliches Aufblitzen ließ Khiray zurückspringen. Pakkaht war langsamer: Das Schwert, das aus der Tiefe des Quallenkörpers hervorschoß, verletzte ihn am Arm. Der Hirsch fluchte noch ärger als zuvor. Irgendwie mußte Hhrugha die verschlungene Waffe in seinem Inneren gedreht haben.

Am Waldrand war das Flimmern intensiver geworden. Es hatte sich in ein buntes Farbenspiel verwandelt - und Khiray meinte bereits Khezzarrik khi Valangassis' Stimme zu hören, die süß lockend nach ihm rief. Der Fuchs hätte am liebsten kehrtgemacht, aber er konnte Kaslin-Ray nicht seinem Schicksal überlassen.

Die Ratte schrie erbärmlich, als zögen die Tentakel langsam seine Hand aus dem Gelenk. Khiray sah, daß die schaumige Sekretion des Dämons auf Kaslin-Rays Fell brodelte und kochte. Die Substanz verätzte das Fell und wahrscheinlich auch Haut und Fleisch darunter. In dieser Form, mußte Khiray einsehen, war der Dämon noch gefährlicher als zuvor. Wie hatte er annehmen können, daß er besiegt sei!

Er versuchte mit dem Dekka'shin die Tentakel durchzusägen, ohne Erfolg. Die Gallerte schnappte förmlich nach der Waffe, doch es gelang ihm, sie rechtzeitig zurückzuziehen, ehe der Dämon sie ihm entwinden konnte.

"Weg von ihm!" brüllte Pallys hinter ihnen. Die Kämpfer reagierten instinktiv und sprangen zurück, nur Saljin ließ Kaslin-Ray nicht los. Hhrugha explodierte in einem Wirbel neuer Tentakel, mit denen er um sich schlug und nach allem griff, was in Reichweite war. Die kleineren, abgetrennten Quallenteile schienen sich wieder mit der Hauptmasse vereinigt zu haben. Im Zentrum des Wesens bildete sich eine Blase, die sich zum Gesicht Chinnaps formte - eine verwesende Fratze, die hämisch lachte.

"Tod", sagte Hhrugha nur.

Dann erreichte ihn Pallys und rammte den magischen Stab in den Körper des Ungeheuers. Hhrugha bäumte sich auf. Grünes Feuer drang aus dem Instrument, strömte durch das Innere der Qualle und flammte in jedem der peitschenden Tentakel. Mit einem letzten Ruck starb der Dämon, und die Gallerte erstarrte. Saljin ließ Kaslin-Ray, der das Bewußtsein verloren hatte, zu Boden sinken. Die Ratte hatte den Tentakeln nicht ausweichen können und noch einige häßliche Hiebe erlitten; einer davon zog sich quer über die Stirn und hatte die Augen nur um Haaresbreite verfehlt.

"Zurück zum Schiff!" rief Khiray. Saljin warf sich den Bewußtlosen über die Schulter und galoppierte los. Die anderen zögerten einen Moment. Pakkaht schien das Schwert an sich nehmen zu wollen, wagte aber nicht, in die langsam vertrocknende Masse zu greifen. Sarmeen kannte keine solchen Hemmungen. Er zog beide Schwerter, die der Dämon geführt hatte, aus dem zerbröselnden Leichnam. Die Reste der Gallerte, nun erstarrt und vertrocknet wie tagealter Brotteig, rieselten zu Boden. Dann wandte er sich zur Flucht.

Ein markerschütterndes Brüllen hinter ihnen kündigte an, daß das Tor sich jeden Moment öffnen konnte. Die Bären schienen auf der anderen Seite auf den Durchlaß zu warten - auf das Zerstören, Töten und Vernichten.

Die 'Silberne Ansicc' stand unter vollem Dampf, und Delley wartete nur darauf, daß sie alle an Bord waren, um die Leinen zu kappen. Der Dampfer nahm Fahrt auf, und das Otterdorf blieb langsam zurück. Vom Waldrand her stürmten riesenhafte Gestalten, gefolgt von weiteren Dienern Galbrens, bei denen sich Khiray nicht sicher war, ob es sich um Dämonen oder Fellige handelte. Aber sie kamen zu spät. Galbrens Garden hatten diesmal Bögen und Pfeile mitgebracht, doch der Vorsprung des Schiffes war größer, als es in Sookandil der Fall gewesen war. Nur wenige Pfeile erreichten die 'Silberne Ansicc' überhaupt; die meisten fielen harmlos ins Wasser.

Die Bären ließen ihre Wut am Otterdorf aus. Das Bersten und Krachen wurde vom Wind weit den Fluß entlang getragen. Die Otter lauschten der Zerstörung ihres Heims fassungslos. War die Welt für sie nicht an diesem Morgen noch heil gewesen?

Glücklicherweise war keiner der Otter zurückgeblieben, um sich mit den Dämonen im Kampf zu messen. An Land waren Otter keine guten Kämpfer. Aber nur wenigen war es gelungen, einen Teil ihrer Habe zu retten; viele hatten nicht einmal zusammenraffen können, was ihnen am wichtigsten war, sondern waren mit dem nackten Leben davongekommen.

Was haben wir getan?, fragte sich Khiray. Warum nur dieses neue Unheil?

Aber er wußte keine Antwort. Das Böse, das Galbren in die Welt gesetzt hatte, begann Kreise zu ziehen. Und wenn es ihnen nicht gelang, die Mächtigen zu informieren, die dem Unheil ein Ende setzen konnten, würden diese Kreise des Verderbens den ganzen Armygan verschlingen.


Ende von Kapitel Zwölf