Kapitel Neun


Völlige Dunkelheit umgab Khiray. Er wünschte sich, eine Fackel mitgenommen zu haben, aber das Licht hätte auch von Garden oder Dämonen gesehen werden können. Außerdem brauchte er beide Hände, um sich an den unsicheren Sprossen festhalten zu können.

Wie tief war dieser Schacht? Er bewegte sich sehr langsam, zugegeben, aber dennoch mußte er schon zehn Meter Abstieg hinter sich haben. Die Luft war abgestanden und roch verbraucht. Der Geruch der schleimigen Flechten hing in seiner Nase.

Wenn eine dieser Sprossen zu verrostet war, um sein Gewicht zu tragen, konnte er sich zu Tode stürzen. Die Helden seiner Bücher gerieten auch in solche Situationen, aber selbstverständlich retteten sie sich mit eleganter Nonchalance vor dem sicheren Untergang (in den Büchern brachen die Sprossen immer!)

Nichts geschah. Einige der Eisenstangen knirschten in ihrer Verankerung, aber sie hielten. Khiray erreichte den Boden des Schachtes unbehelligt.

Vorsichtig tastete er mit einer Pfote nach dem Boden. Nein, die Tür war nicht dort eingelassen, die rohen Steine gaben nicht nach. Er ließ die Sprossen los und befühlte die Wände.

Nichts.

Er war umgeben von grobem Stein, kein Lichtstrahl drang hindurch. Tiefe Stille lastete auf seinen empfindlichen Ohren. Irgendwo mußte es einen Ausgang geben -- welchen Sinn hätte ein Geheimeingang, der nirgendwohin führte? Aber ohne etwas zu sehen, mußte er sich auf seinen Tastsinn verlassen. Der Mechanismus konnte nicht allzu versteckt sein, schließlich befand er sich schon im Inneren des Ganges.

Da! Einer der Steine fühlte sich anders an als die anderen. Glatt. Konkav gewölbt. Man konnte mit der Hand hineinfassen.

Khiray drückte den Stein in alle Richtungen, bis im Inneren der Mauer etwas einrastete. Uralte Schienen und Räder begannen sich in Bewegung zu setzen. Der Fuchs lehnte sich gegen die Wand, um die verborgene Tür aufzudrücken. Licht fiel von der anderen Seite in den senkrechten Schacht, das kalte, klare Licht magischer Lampen. Die verborgenen Kammern wurden also benutzt -- oder brannten die Lampen, seit die Räume zugeschüttet worden waren? Mußte Magie erneuert werden?

Er spähte durch den Schlitz, ehe er die Tür weiter öffnete. Ein kahler Steinraum befand sich auf der anderen Seite. Niemand war zu sehen. Drei gewöhnliche Türen waren in seinem Blickfeld. Ein einzelnes Möbelstück stand an der gegenüberliegenden Wand, eine schlichte Holzbank.

Fast erwartete er, daß Glocken schrillten und Gongs geschlagen wurden, sobald er aus dem Schacht trat, aber nichts dergleichen war der Fall. Alles blieb ruhig. Hier unten gab es keine Garden -- Galbren wollte seine kleinen Geheimnisse wohl nicht jedem offenbaren. Andererseits mochte die Dämonen hier sein, oder Galbren selbst...

Unsinn. Es war Nacht. Galbren schlief wahrscheinlich den Schlaf der Ungerechten. Warum sollte er zur Mitternacht in seinen geheimen Räumen herumschleichen? Er konnte unmöglich erwarten, daß jemand hier eindrang.

Die Dämonen waren schon eher eine Bedrohung. Wo war Alfon Sanass -- Azzhuzzim Beladanar --, wo waren die Bären?

Sie konnten hier in der Tiefe sehr wohl ihr Quartier haben. Oder es gab noch mehr als jene drei Dämonen, verborgen an diesem Ort.

Eine der Türen führte sicherlich zu den Kerkern im Palast. Eine weitere zu den Räumen unter dem anderen Turm. Die dritte... Nach Pallys' Bericht mußte sich noch ein weiterer, größerer Raum hier unten befinden. Wenn die Fuchstauren hier gefangengehalten wurden, dann in dieser Kammer.

Khiray schätzte ab, in welcher Richtung Palast und Turm liegen mochten. Wenn die Konstrukteure dieser unterirdischen Anlage gerade Gänge gegraben hatten und keine verwirrenden Labyrinthe, und wenn er im Schacht senkrecht herabgestiegen war, dann mußte die richtige Tür... die zur Rechten sein.

Er öffnete sie fast lautlos. Rotes, geisterhaft flackerndes Licht schlug ihm entgegen. Ein Raum wie eine Höhle lag vor ihm, zwar gemauert, aber mit gewölbter, unregelmäßiger Decke versehen. Stufen führten eine Fuchslänge hinab bis zum Boden. Der Raum hatte einen Durchmesser von fünfzehn oder zwanzig Metern und war gut acht Meter hoch. In der Mitte ragte eine Säule empor, die die Decke stützte. Im schattigen Winkel unter der Decke befand sich ein Gewirr von Balken und Stützen, die anscheinend nachträglich angebracht worden waren. Vielleicht war die Kammer dem Einsturz nahe.

Die Quelle des Lichts befand sich rechts vom Pfeiler. Ein zwei Meter durchmessender Fleck auf dem Boden -- ein Teich aus rotem Licht, wabernd und glitzernd und lohend, mal fast so klar wie ein verzerrender Spiegel, mal in opakem Feuer brennend.

Fasziniert ging Khiray die Treppe hinab. Was war dieses Leuchten? Er hatte magisches Licht schon oft zuvor gesehen -- es gab sogar magische Lampen an Bord der 'Silbernen Ansicc' --, aber dies hier war anders. Es schien eine Art Leben zu besitzen, eine Persönlichkeit.

Es schien ihn zu beobachten.

Beunruhigt blieb er stehen. Er war nicht hergekommen, um Galbrens Magie zu untersuchen. Oder die Magie der Dämonen. Er sollte sich lieber umdrehen, den Raum verlassen und nach den Fuchstauren Ausschau halten. Hier waren sie nicht, und es gab keine weiteren Türen, aber die Räume unter dem zweiten Turm waren spiegelbildlich angelegt. Vielleicht hielt Galbren sie dort gefangen.

Aber das rote Leuchten zu seinen Füßen war wirklich interessant.

Zu seinen Füßen? Er hatte die Strecke doch noch nicht einmal bis zur Hälfte zurückgelegt!

Die Pfütze aus Licht war gewandert. Ohne daß er es bemerkt hatte -- waren seine Augen von Magie verschleiert? --, hatte sich das Leuchten bewegt, war durch den Raum geglitten...

...und umschloß seine Füße.

Hitze stieg an seinen Beinen auf. Ruhig betrachtete er die Flammen, die über seine Pfoten waberten. Ein Tor zur Hölle, ja, natürlich. Zufrieden nickte er. Das Leuchten war ein Portal, nein, ein Dämon, der sich in ein Portal verwandelt hatte, und es führte direkt hinein in den zweiten Kreis der Hölle.

Khiray lächelte. Alle Geheimnisse klären sich einmal auf. Er war ausgesprochen glücklich über diese Entdeckung.

Die Flammen erreichten seine rückwärts gerichteten Fersengelenke. Sie kitzelten ein wenig am Fell, aber ansonsten war die Berührung nicht unangenehm.

Da war nur dieses Nagen in seinen Gedanken... als sollte er gar nicht hier sein, als solle er kämpfen. Was für eine absurde Idee. Gegen Dämonen konnte er nicht kämpfen, und sonst war doch niemand hier...

...außer dem Feuer, dem Feuer, das ein Dämon war, und das Portal zur...

Hölle!

Die Schleier vor seinen Augen zerrissen, und mit einem Schlag überkam die Panik Khiray. Der Dämon hatte seine Gedanken beeinflußt und ihn so überwältigt. Er versuchte, seine Beine zu bewegen, aber das Feuer hielt sie wie eine eiserne Fessel umklammert. Die Versuche, sich zu befreien, endeten damit, daß er rücklings zu Boden stürzte.

Er stemmte seine Arme auf die Steine und versuchte sich aus dem Feuer zu ziehen, aber auch das gelang ihm nicht. Die Flammen krochen zu seinen Knien hoch. Es war kein heißes Feuer; es fühlte sich eher wie ein warmer Lufthauch an, aber er wußte, daß es ihn in die Hölle reißen würde, wenn es ihm gelang, ihn ganz zu umhüllen.

War Galbren je selbst in der Hölle gewesen...?

Sein Herz schlug bis zum Hals. Er glaubte schreien zu müssen, aber wer sollte ihm helfen? Galbren? Die Dämonen? Oh nein, diesen Kampf mußte er allein durchstehen.

Er wußte, daß er verloren hatte. Das Feuer brannte schon auf seinen Knien und züngelte die Oberschenkel hinauf. Wie ein lebender Film überzog es seine Beine, tastete sich voran, ohne sich noch die Mühe zu machen, seine Gedanken zu manipulieren. Wie kämpfte man gegen Dämonenmagie? Er war kein Zauberer, und Pallys hatte ihm keine Abwehr gegen solche Art von Kraft mitgegeben.

Khiray zog ein Messer und versuchte, die Flammen zu durchschneiden. Fast hätte er sein eigenes Bein verletzt: die Klinge ging durch das Feuer hindurch, ohne es zu beschädigen.

Die magischen Scheiben! Der Fuchs nestelte sein Exemplar aus dem Gürtel und wedelte damit durch die Flammen.

"Ssst!" sagte das Feuer. "Was sollen diese irritierenden Versuche der Gegenwehr?"

"Verschwinde!" zischte Khiray. "Geh zurück!"

"Warum? Es kommt so selten jemand her!" Die Flammen wurden stärker, loderten in einer Feuersäule vor Khiray empor. Ein Gesicht, vage und schemenhaft, formte sich im roten Licht. "So selten! Und wenn, dann nur in Eile. Ab in die Hölle, wieder heraus aus der Hölle, hierhin, dorthin. Kein Danke, kein Bitte, aber so ist Beladanar nun einmal."

Khiray versuchte sich zu beruhigen, obgleich die Furcht ihre eisigen Krallen in sein Herz geschlagen hatte. Er konnte nicht kämpfen, aber vielleicht konnte er den Dämonen überlisten.

"Wie heißt du, Dämon?" fragte er. Seine Stimme hörte sich an wie Rabengekrächze.

"Hmmm? Oh, ich? Khezzarrik khi Valangassis werde ich genannt. Man fragt mich nicht besonders häufig nach meinem Namen. Die meisten nennen mich Tor. Vor ungefähr hunderttausend Jahren, ein paar Jahrzehntausende mehr oder weniger, hatte ich mich auf diese Fähigkeit spezialisiert -- Tore durch die Ebenen und Sphären zu formen. Es war nur ein Scherz, schließlich wollte ich die Hölle nicht wirklich verlassen... aber es hat Beladanar gefallen." Die Flammen seufzten. "Falls du je in die Verlegenheit kommst, tue nichts, was Azzhuzzim Beladanar gefallen könnte. Seine Gunst ist so furchtbar wie sein Zorn."

"Ich hatte nicht die Absicht..."

"Ich weiß. Ich weiß, kleines Fellwesen." Die Flammensäule formte sich, bildete einen Kopf und Körper aus, dann lösten sich feurige Arme vom Körper und fingerten nach Khirays Gesicht. "So ein süßes kleines Fellwesen. Deine Furcht ist wie Honig auf meinen Lippen, dein Entsetzen ist köstlicher Wein. Dein Herzschlag ist das Brot meiner Gedanken, dein Zittern wie ein sonnensüßer Apfel."

Khiray ächzte. "Ich bin eine komplette Mahlzeit, was?" Er wußte nicht, was ihn dazu bewog, dumme Witze zu reißen, während er in der tödlichen Umarmung eines Dämons gefangen war.

"Mmm, mehr als eine Mahlzeit. Ein Leckerbissen. Ich frage mich, wie du sonst schmecken magst."

"Wie..." Wollte der Dämon ihn fressen? Pallys hatte gesagt, sie ernährten sich von negativen Emotionen. Vielleicht war das nur eine Seite ihrer Eßgewohnheiten.

"Du wirst schon sehen..." Das Flammenwesen formte sich abermals um, wiederum klarer und deutlicher als zuvor. Die wabernde Oberfläche wurde ruhiger, und die ganze Gestalt zog sich zusammen. Khiray konnte nicht länger durch das Licht hindurchsehen, das nur noch tiefrot glühte und ihn nicht mehr blendete. Allein die Augen in dem immer schärfer hervortretenden Gesicht strahlten grell in einem machtvollen Feuer.

Vor ihm stand eine Füchsin. Ihr Fell war seltsam unfertig, und winzige Flämmchen tanzten darin herum wie eine seltene Art Floh, aber der Körper war makellos geformt -- der Dämon mußte in Khirays Gedanken geforscht haben, anders hätte er diese Perfektion nicht erreichen können. Ihre Farbe war nicht das Rot von Fuchsfell, sondern das von verlöschender Glut, und ihr Schwanz war lohend gelb. Aber sie war schlank und aufreizend von der ebenmäßigen Schnauze bis zu den Pfoten. Nur die rechte Pfote war seltsam: sie lief in einen flammenden Tentakel aus, der Khirays Fuß umklammert hielt.

Der Fuchs begann Böses zu ahnen. War der Dämon wirklich weiblich? Wohl kaum; wahrscheinlich gab es bei Dämonen überhaupt keine Geschlechter. Khezzarrik khi Valangassis hatte nur eine weitere Gestalt angenommen, genau wie Beladanar, nachdem Khiray seine Wurmgestalt mit dem Dekka'shin halbiert hatte.

Wäre Khezzarrik eine wirkliche Füchsin gewesen, hätte Khiray sie äußerst anziehend gefunden. Aber sie war ein Dämon aus lebendem Feuer. Sie hatte kein wirkliches Fell, sie hatte keinen Herzschlag, und ihre einzige Wärme resultierte aus der Glut der Hölle, die sie hervorgebracht hatte. Ihre Augen waren grausame Lohen voller Hunger und Begierde. Und sie saugte an seiner Furcht, bis er ihren Appetit fast körperlich spüren konnte.

Khezzarrik ließ sich auf die Knie nieder. "Laß uns spielen, Füchschen!"

"Nein!" rief Khiray. Er riß an seinem Bein, aber der Dämon hielt ihn mühelos fest. In Gestalt von Felligen oder Men'schin mochten die Dämonen an die Grenzen ihrer Körper gebunden sein (oder auch nicht), dies aber war die wahre Gestalt eines Dämons, und keine Grenzen banden die Gewalten der Hölle.

Und so tief unter der Erde war die Wahrscheinlichkeit, daß ein Erzengel vorbeikommen würde, um ihn zu retten, sehr gering -- ob es nun ein Füchschen mit Flügeln war oder eine fleischgewordene Manifestation von Magie.

Der Dämon beugte sich über Khiray. "Ssso kösstlich! Süß und rein. Gib mir deine Lust!"

"Was für..." Lust war das letzte, was der Fuchs jetzt verspürte. Was glaubte der Dämon, was er/sie da tat? Wenn Dämonen Gefühle verzehrten, sollte Khezzarrik eigentlich wissen, was Khiray gerade empfand.

Aber der Dämon bewegte seine/ihre Hand hinab auf seinen Schenkel, und weißes Feuer raste durch Khirays Adern. Schmerz zunächst, aber ein so exquisiter Schmerz, daß er beinahe reinigend wirkte. Die Furcht verblaßte vor dem Hintergrund der flammenden Pein. Die Welt selbst schien zurückzuweichen, bis einzig er und der Dämon in einer Aura magischer Qual existierten.

"Schmerz... gut..." Khezzarrik ließ seine Hand über Khirays Körper streichen, und auf seltsame Weise schien die Pein in den Dämonen überzugehen, bis nichts mehr übrig war -- und auch sonst kein Gefühl. "Aber nicht jetzt, nicht jetzt!" Die Finger des Dämonen glitten zwischen die Beine des Fuchses und berührten seine Genitalien. "Armes Füchschen, nur Streit mit Dämonen, keine Freude."

Energie tropfte aus der Gestalt des Dämonen, huschte über Khirays Fell und drang durch seine Haut. Plötzliche Hitze ließ ihn erschaudern. Die Leere in seinem Kopf wurde durch eine Emotion ersetzt -- und nur eine. Er blickte an sich herab und erkannte, daß sein Körper ihn im Stich ließ, ihn an den Dämonen verriet. Seine Männlichkeit hatte bereits die fellige Scheide verlassen und erwartete begierig die Berührung der dämonischen Füchsin.

"Nein!" schrie Khiray, aber vergebens. Der Dämon hatte ihn völlig in der Gewalt. Er war nicht mehr Herr seiner selbst; was immer sein Verstand sagte, sein Körper weigerte sich zu folgen. Selbst die Furcht, das Entsetzen, der Widerwille, der langsam wieder zurückkroch, konnten die Macht des Höllenwesens nicht brechen.

"Ssso gut!" flüsterte die Füchsin und senkte den Kopf. Ihre Zunge wanderte über Khirays Glied. "Ssso lange her. Du Füchschen wirst mein sein... mein... sehr lange..."

Weißes Feuer...

...niemand hörte ihn, niemand kam...

...Schmerz und Lust, und das erstere eher willkommen, war es doch die Erinnerung daran, daß er immer noch lebte...

...und die dämonische Füchsin labte sich an beidem, als sei es ein besonders delikates Menü, während Khiray, dem grausamen Willen unterworfen, ihrem Befehl folgen mußte, jenseits jeden Schmerzes, jenseits jeder Erschöpfung, über die Grenzen seines Körpers hinaus, beseelt nur noch von der Energie der Höllenmagie. Er war zu einem Gefäß für Emotionen geworden, aus dem der Dämon tiefe Züge trank und es mit gnadenlosem Hunger nachfüllte. Khezzarrik hielt längst nicht mehr seine Pfote fest, aber Khiray bezweifelte, daß er noch die Kraft hatte, dem Dämonen zu entkommen. Die Höllenfüchsin ritt auf seinem wehrlosen Körper, erfüllte die Lenden ihres Opfers mit gerade genug Enthusiasmus, um seine erzwungene Lust zu verzehren, bis der junge Fuchs den Kampf aufgab und unter den heranbrandenden Wellen der Finsternis, die mit jedem neuen Schluck des Dämons kamen, unterging.

* * *

Flackerndes rotes Licht erinnerte ihn daran, wo er war. Khiray hatte den Eindruck, nur Minuten ohne Bewußtsein gewesen zu sein, und sein zerschundener, mißbrauchter Körper gab ihm recht. Er hatte kaum die Kraft, sich aufzurichten. Seine Muskeln schmerzten vom vergeblichen Kampf, und er fühlte sich unsäglich beschmutzt und erniedrigt. Aus irgendeinem Grund lag er auf dem Bauch, und der Geruch nach Stein und altem Moos aus den Ritzen drang in seine Nase. Das, und der feurige Geruch der Glut. Er hatte keine Chance gegen den Dämon gehabt...

Der Dämon! Mühsam wälzte sich Khiray herum und stemmte sich in eine sitzende Position. Khezzarrik war in sein Pfützenstadium zurückgekehrt; der Kreis wabernden Lichts lag wieder neben dem Pfeiler. Entweder war der Hunger des Dämonen gestillt, oder er hatte es aufgegeben, nachdem Khiray bewußtlos geworden war.

Vorsichtig kroch der Fuchs der Treppe entgegen, kam unendlich langsam auf die Beine und zwang sich die Stufen hinauf. Wahrscheinlich warteten auf der anderen Seite der Tür die Garden oder die Bären-Dämonen darauf, ihn in Empfang zu nehmen.

Niemand.

Khiray spähte durch die Tür, aber alles blieb ruhig. Die Tür zum geheimen Schacht war geschlossen. Niemand hatte ihn entdeckt. Niemand wollte ihn festnehmen. Hatte Khezzarrik keinen Alarm gegeben?

Vielleicht hielt der Dämon ihn für tot. Nein, das konnte nicht sein; so dumm waren die Höllenwesen nicht. Viel eher war die Sicherheit Beladanars Khezzarrik reichlich egal; es schien keine große Liebe oder Loyalität zwischen den beiden Dämonen zu geben. Vielleicht war Khezzarrik nicht einmal an Beladanars Plänen beteiligt und diente nur als Tor, als nützliches Werkzeug.

Aber dämonische Politik war das letzte, was Khiray jetzt interessierte. Er schloß die Tür zu der großen Kammer hinter sich. Hoffentlich konnte Khezzarrik ihn nicht wieder zu sich rufen. Hoffentlich...

An Stammtischen in Kneipen wurden gerne ähnliche Geschichten erzählt, von einsamen Felligen, die in die Hände unersättlicher Frauen fielen. Die Helden jener Geschichten hatten es nie besonders eilig mit dem Entkommen; Khiray hingegen konnte gar nicht schnell genug den Machtbereich des Dämons verlassen. Das war nicht einmal annähernd eine Liebesnacht, wie er sie sich vorstellte. Sein Fell schien vor Gestank zu kleben; die Ausdünstung des Dämons haftete wie eine bleibende Erinnerung an seinem Haar. Fast glaubte der junge Fuchs, noch immer die tastenden, saugenden Finger der Höllenkreatur zu spüren. Der Ekel überwältigte ihn. Eine Vergewaltigung, nichts anderes. Nicht einmal sein Geist war unbehelligt geblieben.

Er mußte alle Kraft zusammennehmen, um weiterzugehen. Er betrat den Tunnel, der zu den spiegelbildlichen Kammern unter dem zweiten Turm führte. Jeder Schritt sandte einen Schauer des Schmerzes durch seine Glieder, doch diesmal war es ein widerlicher, betäubender Schmerz. Khiray fragte sich, wie er jemals wieder Lyshs Zärtlichkeit genießen sollte, ohne an dieses Erlebnis zu denken. Und Saljin...

Was, wenn Galbren Saljin Khezzarrik vorgeworfen hatte, gewissermaßen als Belohnungshappen? Er weigerte sich, daran zu denken. Aber ungebetene Bilder tauchten dennoch in seinen Gedanken auf. Khezzarrik war nicht wirklich weiblich. Er konnte jede Gestalt annehmen und seine Opfer...

Nein. Wenn Galbren die Fuchstauren zur Hölle geschickt hatte, war es ohnehin zu spät. Dann konnte er nur noch fliehen.

Fliehen... Delley! Er hatte sich noch nicht bei der Ratte gemeldet! Rasch holte er die Kristallscheibe wieder hervor und aktivierte den Zauber mit einer Bewegung des Fingers. Glücklicherweise hatte er sie nicht in Khezzarriks Raum liegenlassen, als er sie als Waffe gebrauchte.

"Delley?" Khiray fragte sich, ob der Zauber wirkte. Sie hatten die Scheiben am Abend ausprobiert, aber er war jetzt mehr als zehn Meter unter der Erde.

Es dauerte einige Sekunden, bis Delleys atemlose Stimme erklang. "Khiray! Wo bist du gewesen?"

Der Fuchs überlegte. "Ich hatte eine Begegnung mit einem Dämon." Er konnte seinem Freund nicht die ganze Wahrheit sagen. Nicht jetzt.

Vielleicht nie.

"Die Dämmerung hat eingesetzt! Du warst über fünf Stunden fort!"

Fünf Stunden? Fünf Stunden in der Gewalt des Dämons? Vorsichtig strich Khiray über seine Genitalien. Der Schmerz gab Delley recht. Selbst in seinem Schlauch eingezogen fühlte sich sein Glied wund an.

"Ich habe die Kammern gefunden." Der Fuchs versuchte die Spannung in seinen Armen und Beinen zu lockern. Kämpfen konnte er in diesem Zustand jedenfalls nicht.

Andererseits hatte es ihm vorher ja auch nichts genutzt. Er mußte sich auf Verstohlenheit und Geschick verlassen. Wenn die Sonne aufging, würde Galbren vielleicht hierher kommen.

Es blieb nicht mehr viel Zeit.

Er eilte durch den Gang, so gut es ging, und drang lautlos in den Vorraum ein. Auch hier mußte es einen Geheimgang geben, aber dieser war nicht sichtbar. Im Gegensatz zum anderen Vorraum hatte dieser nur zwei Türen; einen direkten Zugang zum Palast gab es hier anscheinend nicht.

Er drückte den Riegel der Tür, die zum größeren Raum führte, bereit, sofort zu fliehen, wenn er auch hier ein rotes Leuchten sehen sollte. Aber das Licht war weiß und stetig.

Unter der gewölbten Decke spannten sich ähnliche Balken wie in Khezzarriks Raum. Eine Leiter führte zu den Balken hinauf; hier war vor kurzem gearbeitet worden.

Das erste, was Khiray auffiel, war der Geruch nach Exkrementen -- Wolfsexkrementen. Wolf? Benutzte Galbren diesen Raum als Toilette? Unmöglich.

Dann sah er die eisernen Käfige. Sechs Stück waren an der Wölbung der gegenüberliegenden Wand aufgereiht. Jeder zweite war besetzt.

Im ersten stand Saljin. Im fünften befand sich Dek. Aber auch der dritte Käfig enthielt einen Insassen -- einen Wolf. Khiray begann zu ahnen, wen Galbren hier gefangenhielt.

Keiner der drei gab einen Laut von sich, bis der Fuchs Saljins Käfig erreicht hatte.

"Khiray!" flüsterte die Fuchstaurin. "Was machst du hier?"

"Euch befreien, was sonst?" Khiray schüttelte den Kopf. "Keine Zeit für lange Reden. Galbren kann jeden Moment kommen." Er wandte sich dem Wolf zu. "Ihr seid Sarmeen, Galbrens Bruder?"

Der Wolf nickte heftig. Dann öffnete er die Schnauze und deutete darauf. "Naaa!"

Khiray sah genauer hin. Sarmeen hatte keine Zunge mehr. Fassungslos starrte der Fuchs auf den Stumpf. Galbren hatte seinem eigenen Bruder...

Wahrscheinlich rechnete es sich Galbren selbst hoch an, daß er Sarmeen nicht gleich getötet hatte. Oder er hatte noch eigene Pläne mit seinem älteren Bruder. Die Dämonen waren jedenfalls eine passende Gesellschaft für den guten Gouverneur.

Ein leises Geräusch ließ Khiray aufhorchen. Es kam von draußen. Eine Tür... Jemand näherte sich. Schritte waren selbst für seine Ohren nicht zu hören -- die geschlossenen Türen verschluckten die meisten Laute --, aber er wußte, wie lang der Gang war. Er hatte nur noch Sekunden Zeit.

Die Leiter! Er hastete zu dem Utensil hinüber und begann, die Sprossen hinaufzusteigen. Schmerz fuhr durch seine Beine und kroch bis zu seinen Fingerspitzen empor. Er ignorierte es und kletterte weiter.

Konnte Galbren ihn riechen? Eilig schnüffelte Khiray. Nein, das Ruchkraut tat noch immer seine Wirkung und hatte inzwischen selbst den Gestank des Dämons verschluckt, obwohl die Salbe zu einer bröseligen Masse erstarrt war, die sein Fell in Igelstacheln verwandelte.

Er erreichte einen Balken und kroch vorsichtig darauf. Wenn er sich ruhig hielt, mochte er in der Dunkelheit hier oben verschwinden.

Die Tür öffnete sich, und Khiray erstarrte. Er versuchte, aus halbgeschlossenen Augen und ohne sich zu rühren die Ereignisse zu verfolgen. Das Weiß seiner Augäpfel mochte ihn verraten, und jede Bewegung konnte die Aufmerksamkeit einer Person unten erregen, also bemühte er sich, mit den Schatten eins zu werden.

Galbren und Alfon Sanass -- nein, Azzhuzzim Beladanar -- traten ein. Der Gouverneur schien sich in einer erhitzten Diskussion mit dem Dämonen zu befinden.

"...sage, wir töten sie wie die anderen", grollte Galbren gerade. "Wir finden die Trolle auch ohne sie."

"Sie sprechen die Sprache der Trolle", gab Beladanar zu bedenken. "Das kann ein großer Vorteil sein."

"Sie werden uns nie helfen. Sie werden für uns nicht vermitteln, sie werden keinem von uns die Sprache beibringen."

"Nicht so schnell, guter Gouverneur. Wenn wir den einen gegen den anderen als Druckmittel einsetzen... es sind Bruder und Schwester, wenn ich das richtig mitbekommen habe, nicht ganz so gut wie zwei Liebende, aber ich bin mir sicher, sie werden sehr kooperativ sein."

"Dämonische Freuden, wie? Und nebenher ein wenig Schmerz und Furcht als Happen für einen gewissen Azzhuzzim Beladanar?"

Der Dämon zuckte die Achseln. "Deshalb bin ich hier. Unsere Vereinbarung basiert auf gegenseitigem Nutzen."

"Der Nutzen kommt noch! Erst brauche ich eine Armee, ohne Armee keinen Krieg, ohne Krieg kein Dämonenfutter!"

Beladanar betrachtete seine Finger. "Der Hunger ist stark, so weit abseits der Höllenkreise. Ohne Nahrung keine Dämonen, ohne Dämonen keine Armee."

Khiray überlegte. Was die beiden sagten, stimmte mit seinen Vermutungen über Galbrens Pläne überein. Aber unter den Dämonen schien es Uneinigkeit zu geben, und besonders kooperative Partner waren sie sicher nicht.

Wenn Azzhuzzim Beladanar nicht ohnehin ganz eigene Pläne verfolgte.

Galbren wandte sich an Saljin. "Ich bin mir sicher, du hast deine Meinung über mich noch nicht geändert."

Die Fuchstaurin sagte kein Wort, sondern starrte den Gouverneur nur eisig an. Galbren ging weiter. "Hallo, Bruder. Was für ein schöner Tag. -- Nun, Dek, nach all dem Ärger könntest du doch ein wenig gesprächsbereiter sein. Ich persönlich lege auf deine Anwesenheit keinen Wert, aber mein Freund hier labt sich gerne an deiner hilflosen Wut. Ich versichere dir, ein Brocken Trollsprache oder zwei würden deinen Wert für mich beträchtlich erhöhen."

Dek schwieg. Der Gouverneur zuckte die Achseln. "Wie du willst. Für mich macht es keinen Unterschied. Meine Pläne sind weitreichend. Die Trolle können warten. Aber wenn Azzhuzzim hungrig ist, können wir ihm und seinen Freunden vielleicht etwas Nahrung verschaffen."

Galbren lehnte sich gegen den Pfeiler und betrachtete sinnierend Saljin. "Deine Schwester zum Beispiel. Es ist schade, daß meine Truppen bisher noch nicht so recht an das rauhe Söldnerleben und seine kargen Vergnügungen gewöhnt sind. Das ist der Nachteil von tausend Jahren Frieden. Und selbst wenn, wäre da doch ein bißchen Protest zu erwarten. Schließlich ist deine Schwester ein halbes Tier, jedenfalls da, wo es drauf ankommt. Ich verlange schließlich von meinen Männern auch nicht, ein Schwein zu besteigen. Aber vielleicht tun es ein paar Stunden unter der Peitsche oder eine richtig applizierte Eisenstange auch. Schmerz ist schließlich Schmerz."

"Ganz im Gegenteil", protestierte Azzhuzzim. "Der Schmerz einer Verbrennung mit glühender Kohle schmeckt ganz anders als der Schmerz brechender Knochen. Schmerzen, die durch..."

Galbren winkte ab. "Schon gut, ich bin sicher, wir finden etwas für jeden Geschmack. Ihr Fuchstauren seid zähe Krieger, ihr reicht für meine Dämonen sicher viele Tage, wenn nicht Wochen. Mein guter Bruder hier könnte niemals so lange aushalten." Er wandte sich zum Gehen.

Der Dämon folgte ihm widerwillig. "Warum beginnen wir nicht jetzt gleich?"

Der Gouverneur schüttelte den Kopf. "Das Zeigen der Instrumente erhöht die Vorfreude. Wir werden heute mittag alles aufbauen und genau erklären. Ich dachte, Dämonen verstünden sich gut auf solche Dinge?"

"Das tun wir. Aber ich koste nicht so viel Verzweiflung, wie ich gerne hätte. Nicht genug Furcht. Weniger noch als gestern."

"Du wirst Furcht bekommen. Soviel du willst." Die Tür fiel hinter den ungleichen Verbündeten ins Schloß.

Khiray wartete, bis er die Tür am anderen Ende des Ganges hören konnte: eine Tür, dann die zweite... und dann wartete er noch einige Sekunden, ehe er von der Leiter stieg.

"Die machtgierigen Magier unseres Volkes sind üble Gesellen", sagte Saljin, "aber dieser Galbren verdient den Tod zehnmal mehr."

Khiray suchte den Raum nach einem Schlüssel ab, fand aber nichts. Der Gouverneur mußte ihn bei sich tragen. Nun, halb so schlimm für jemanden, der bei einer Ratte in die Lehre gegangen war. Die Schlösser waren schwer, aber nicht allzu kompliziert. Der Fuchs öffnete sie mit einer Messerspitze und etwas Draht, der -- zusammen mit etlichen anderen Werkzeugen und Gegenständen -- von der Reparatur der Balken übriggeblieben zu sein schien.

Die Fuchstauren verließen ihre Käfige lautlos. Der Wolf zögerte eine Weile, als könne er die plötzliche Freiheit nach den Monaten des Kerkers nicht fassen.

Galbren hatte die Waffen und Rüstungen der Fuchstauren hinter dem Pfeiler aufgetürmt. Diejenigen, die er von Khiray gekauft hatte, waren nicht dabei; vielleicht übten die Garden schon damit. Dek legte eine Rüstung an.

"Wir müssen uns beeilen", zischte Saljin. "Wir haben keine Zeit für so etwas!" Sie nahm sich jedoch ein Dekka'shin von dem Stapel.

"Wenn wir kämpfen müssen, sind wir gerüstet besser dran", behauptete Dek. Das mochte wahr sein -- Khiray konnte zahllose Spuren des verlorenen Kampfes an beiden Fuchstauren feststellen.

Aber mit der Rüstung konnte Dek nicht den Schacht emporsteigen. Er versuchte den Fuchstauren die Lage zu erklären. Dek nickte widerwillig und ließ den größten Teil der Rüstung liegen.

Inzwischen mußte die Sonne längst aufgegangen sein. Die ersten Felligen waren bei der Arbeit. Man würde sie unweigerlich sehen, und von der Mauer bis zum Hafen war es ein gutes Stück Wegs, vorbei am Palast, in dem sich sicherlich Gardisten aufhielten.

Khiray öffnete den geheimen Schacht. Der Mechanismus lag versteckt genug, um auch in Jahrzehnten nicht gefunden zu werden -- aber wußte Galbren wirklich nichts davon? Vielleicht ignorierte er die geheimen Eingänge nur, im sicheren Bewußtsein, daß kein Lebender mehr von den verborgenen Kammern wußte.

Außer Pallys. Aber wie hätte Galbren das wissen sollen?

Der Fuchs hoffte, daß die Sprossen hielten. Er starrte in die Finsternis des Schachtes hinauf. Sie konnten nicht warten, bis einer oben war, um dann den nächsten nachzuschicken; das hätte zu viel Zeit gekostet. Sie mußten alle gleichzeitig den Aufstieg wagen und hoffen, daß keine der Eisenstangen brach.

Glücklicherweise waren die Körper der Fuchstauren beweglich genug, daß sie den Schacht überhaupt benutzen konnten. Das Gelenk, das ihre Unter- und Oberkörper verband, erlaubte Drehungen und Beugungen, die mit einer relativ starren Wirbelsäule nicht auszuführen gewesen wären. Und mit sechs Gliedmaßen konnten sie ihr größeres Gewicht auch besser verteilen.

Trotzdem ließ Khiray Sarmeen direkt hinter sich emporsteigen, vor den Fuchstauren. Dek kam als letzter, da er der schwerste in der Gruppe war. Khiray traute ihm auch zu, sich durch den Gang und die Kerker ins Freie zu kämpfen, wenn die Sprossen ihn nicht tragen sollten.

Aber sie erreichten die Turmkammer ohne Schwierigkeiten. Die Sprossen ächzten und bogen sich unter dem Gewicht, aber nur eine gab unter Deks Pfoten nach, und der Fuchstaur konnte sich mühelos abfangen. Sich in der Enge nicht gegenseitig mit den Dekka'shin zu verletzen erwies sich als das größere Problem.

Khiray spähte nach draußen. Wie erwartet, spazierten bereits einige Fellige über den Versammlungsplatz. Sie konnten nicht ungesehen zum Hafen kommen, und sie konnten auch nicht in der Turmstube auf die Dunkelheit warten. Sie mußten alles auf Schnelligkeit setzen.

Nachdenklich betrachtete der Fuchs den Wolf. Ob Sarmeen diese Anstrengung überstehen würde?

Der Schmerz meldete sich zu Wort und erinnerte Khiray daran, daß er sich lieber um sich selbst Sorgen machen sollte.

"Wir laufen", entschied Dek, ehe der Fuchs etwas sagen konnte. "Zu den Wäldern."

"Nein!" sagte Khiray. "Zum Schiff!" Er aktivierte den Sprachzauber. "Delley, ich habe sie gefunden. Heiz' die Kessel an!" Er schätzte ab, wie lange die 'Silberne Ansicc' benötigen würde, um fahrbereit zu werden. Die Hitzeschleife entwickelte gewaltige Energien, wenn sie auf voller Kraft gefahren wurde, aber das Wasser in den Rohren mußte dennoch erst einmal zum Kochen kommen.

"Das habe ich schon getan." Delleys Stimme klang selbstzufrieden. "Wir können abfahren. Beeil' dich, Hafenmeister Brokvorth kommt gerade den Kai herunter. Wahrscheinlich will er wissen, warum wir unter Dampf stehen."

Khiray nickte, dann erinnerte er sich daran, daß Delley ihn ja nicht sehen konnte. "Wir sind unterwegs." Zu Dek gewandt, sagte er: "In den Wäldern können sie uns jagen. Auf dem Fluß müssen sie erst ein Schiff klarmachen. Galbrens eigene Schiffe sind nicht in der Stadt."

"Wir können laufen", brummte Dek. "Schneller als die Garden. Weiter als die Garden."

"Aber nicht weiter als die Bären", zischte Khiray. "Das sind keine Felligen. Es sind Dämonen. Galbren wird alles daran setzen, euch einzufangen und langsam zu töten. Und es wird ihm gelingen! Ich kenne den Fluß, ich habe ein Schiff. Kommt mit zum Hafen!"

"Das gefällt mir nicht", sagte Dek. "Was sind Dämonen? Galbren redet davon, du redest davon. Ich sehe nur Bären und einen Men'schin."

Khiray schüttelte den Kopf. "Nicht jetzt. Wir müssen los. Bis zum Hafen müssen wir laufen und hoffen, daß niemand schnell genug die Garden alarmiert." Hoffentlich waren die Passanten zu überrascht. Hoffentlich stand kein Gardist am Palast Wache.

Er öffnete die Tür. Sie begannen zu laufen.

Der erste Alarmruf war zu hören, ehe sie den Palast auch nur erreicht hatten.

* * *

Khiray wußte, daß er es nicht schaffen würde. Jeder Schritt war eine Qual. Sein Kopf hatte wieder zu pochen begonnen, und er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Selbst Sarmeen hielt sich besser als er.

Die Fuchstauren waren ungleich schneller. Aber sie wollten ihn anscheinend nicht zurücklassen. Dek versuchte, ihn zu stützen.

Sie waren noch nicht weit am Palast vorbei, als die ersten Garden herausstürmten und ihre Waffen zogen. Khiray sah kurz über seine Schulter. Dies waren nicht die Vorzeigetruppen, die sogenannten Elitesoldaten, sondern ausgebildete Kämpfer. Niemand stürmte blindlings auf die Fliehenden zu. Der Hauptmann ordnete seinen Trupp mit wenigen Gesten und ließ die Soldaten im Sturmschritt losmarschieren.

"Sie sind zu schnell", ächzte Khiray. "Wir entkommen ihnen nicht!"

Dek sah hinab zum Hafen. "Wie schnell ist das Schiff? Können sie es entern, wenn sie uns so nahe auf den Fersen sind?"

Der Fuchs schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht. Es ist möglich. Wenn die 'Silberne Ansicc' erst Fahrt aufnimmt, könnten sie uns am Ufer folgen. Sie haben noch keine Bögen, aber wenn, können sie uns von Land aus beschießen."

"Verdammnis." Dek ließ Khiray los. "Dann muß ich etwas tun."

"Nein!" rief Saljin. "Du kannst nicht allein gegen sie kämpfen!"

"Ich muß", widersprach der Fuchstaur. "Flieht. Durchkreuzt die Pläne dieses Galbren und tötet ihn für mich." Er hob das Dekka'shin. "Niemand wird euch verfolgen."

"Das ist nicht die Zeit, um den Helden zu spielen", knurrte Khiray. Die Reihe der Soldaten nahm fast die ganze Breite der Straße hinter ihnen ein. Sie griffen nicht an, aber der Fuchs konnte sehen, wie der Hauptmann nach hinten sah. Galbren kam.

Dek seufzte. "Ich wäre auch lieber woanders. Diese Reise ist nicht so verlaufen, wie wir es erhofft hatten. Aber das Schicksal spielt einem mitunter böse Streiche."

Saljin faßte Deks Arm. "Ich will dich nicht auch noch verlieren." Ihr Blick wanderte in Richtung des Palastes, auf dessen anderer Seite die toten Fuchstauren ausgestellt waren.

"Ich werde immer bei euch sein. Khiray, du hast dein Leben für uns gewagt. Ich bitte um Vergebung für meinen Zorn. Du bist jetzt mein Bruder. Wohin du auch gehst, mein Geist wird dich begleiten."

Saljins Zunge fuhr über Deks Schnauze. "Leb wohl."

Dek lächelte. "Ich bedaure nur, daß ich niemals Zeit hatte, einen Namen zu gewinnen. Man wird sich nicht an mich erinnern."

"Das wird man", flüsterte Saljin. Sie musterte die Reihen der Soldaten. "Dek von den Tausend Feinden, man wird deinen Namen an allen Feuern singen, von den Kristallhöhlen bis hinab zum Goldenen Ufer."

Der Fuchstaur nickte. "Dann ist es gut." Er wandte sich den Soldaten zu. "Wollt ihr kämpfen?"

Die uniformierten Felligen sahen sich unbehaglich an.

"Dann kämpft!" Mit einem markerschütternden Schrei stürzte Dek los, das Dekka'shin im Bogen geschwungen, so daß seine Streiche fast die ganze Breite der Straße abdeckten. Unwillkürlich wichen die Soldaten zurück.

Saljin zerrte Khiray weiter. Sarmeen war ihnen schon weit voraus, hatte fast das Schiff erreicht.

"Aber..." brachte Khiray hervor.

Stumm schob die Fuchstaurin ihn weiter. Von hinten erklangen die ersten Schreie. Der Fuchs meinte Galbren zu hören, wie er "Tötet sie, ihr Idioten!" oder etwas ähnlich Aufmunderndes brüllte.

Das Pflaster schien unter seinen Pfoten zu brennen. Unerträglicher Druck suchte seinen Kopf heim. Da waren Stimmen, nein, nur eine Stimme, ein Wispern aus der Ferne...

"Komm doch zurück, Füchschen, ich möchte noch ein wenig spielen! So süß, so zart...!"

Khezzarrik. Feurige Finger schienen an Khiray zu zerren, brachten ihn zum Stolpern. Er entglitt Saljins Griff und fiel hilflos zu Boden.

Die Fuchstaurin zog ihn wieder hoch. "Was ist los mit dir?"

"Dämonen", stöhnte Khiray. "Sie wollen mich..."

Saljin sah sich um. Khiray bemerkte, wie ihr Gesicht sich schmerzvoll verzerrte, als ihr Blick auf die Kampfszene fiel. "Niemand..."

Der Fuchs winkte ab. "Keine Zeit, später..."

Er hörte Delley vom Kai her rufen. Sarmeen war bereits an Bord. Das Schiff bewegte sich langsam, glitzerndes Wasser perlte von den mächtigen Schaufelrädern, die sich gemächlich drehten. Sie waren fast da. Fast da. Brokvorth der Wolf stand mit verschränkten Armen da und musterte das Geschehen halbwegs unbeteiligt.

Das Brüllen von hinten erschütterte Khiray bis ins Mark. Die Bären waren gekommen. Der Boden zitterte unter ihrem Galopp.

Die 'Silberne Ansicc' schob sich voran.

Khiray nahm alle seine Kraft zusammen. Er würde springen müssen; das Schiff hatte alle Planken eingezogen.

Pallys' kleine Gestalt huschte an ihm vorbei. "Beeilt euch! Die Dämonen sind da!" Es war kaum zu überhören: das Toben der Bären übertönte selbst den Kampfeslärm. Khiray sah sich nicht um. Er befreite sich aus Saljins Griff und lief los. Zwei Meter, einen...

Sein Schwung trug ihn über das dunkle Wasser. Er schlug unbeholfen auf Deck auf; seine Beine trugen ihn nicht mehr. Die Geräusche, die er hörte, und die Stimme in seinem Kopf waren nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Das Blut pochte in seinen Adern, und alle Luft war aus seinen Lungen gewichen.

Saljin kam elegant neben ihm auf und drehte sich auf einer Pfote herum, das Dekka'shin in beiden Händen. Die Bären waren zu schnell. Sie würden das Schiff erreichen.

Khiray setzte sich auf. Pallys handhabte einen kleinen Stab voller Schnitzereien, nicht mehr als ein Spielzeug neben der schieren Masse der Bären. Die Dämonen setzten zum Sprung an, ignorierten das Kaninchen, als sei es gar nicht vorhanden.

Pallys schwang den Stab in einem Bogen. Grünes Feuer sprang hervor, lohte über den Boden und zog eine Linie quer über den Kai. Die Dämonen prallten gegen die Linie, als sei sie ein unsichtbares Hindernis. Brüllend kratzten sie an einer imaginären Wand. Sie schienen nicht einmal in der Lage zu sein, die Linie einfach zu umgehen.

"Magie", murmelte Khiray. "Pallys ist ein Magier!"

Das Wasser auf beiden Seiten des Dampfers schäumte weiß. Delley hatte die Maschinen auf vollen Schub geschaltet. Ohne die Last einer Fracht sprang die 'Silberne Ansicc' förmlich voran, hinaus in die Flußmitte, und ließ die vor Zorn kreischenden Bären, die kämpfenden Soldaten und den sinnierenden Hafenmeister hinter sich.

Der Wasserstreifen schien schon zu breit für Pallys, aber der alte Lehrer war immerhin ein Kaninchen, und Kaninchen waren für ihre Sprungkraft berühmt. Mit einem gewaltigen Satz überwand Pallys die Strecke und kam sicher auf Deck zu stehen.

Khiray sah Dek fallen. Selbst am Boden kämpfte er noch, bis die Lanze eines Soldaten seinem Zorn ein Ende machte.

Der junge Fuchs sah Saljins Tränen. Er konnte nichts sagen.

Sie schwiegen lange Zeit. Soldaten kamen am Kai an. Einige sprangen sogar ins Wasser, aber das Schiff hatte inzwischen Fahrt aufgenommen und ließ die Schwimmer hinter sich. Als Galbren endlich Bogenschützen herbeibeordert hatte, war es zu spät; die 'Silberne Ansicc' war außer Reichweite.

Tief im Schiff dröhnten die Maschinen. Die Schaufelräder sprühten Gischt in die kalte Morgenluft. Sookandil blieb hinter ihnen zurück.

* * *

"Du bist ein Magier", sagte Khiray Pallys ins Gesicht.

Das Kaninchen befingerte seinen Stab. "Nein. Das bin ich nicht. Ich habe nur einige magische Hilfsmittel im Laufe der Zeit angesammelt."

Der Fuchs schüttelte den Kopf. "Du wußtest von den geheimen Kammern, weil du selbst an ihnen gearbeitet hast. Es gibt keine andere Erklärung." Die Stimme des Dämonen war verstummt. Zwar fühlte sich sein Körper noch immer zerschunden an, aber er konnte wieder klar denken. "Niemand sonst hätte davon wissen können. Es gibt keine Aufzeichnungen. Nur die Gouverneure, wenn überhaupt, kennen die Kammern."

"Ich habe nicht bestritten, am Bau der Kammern beteiligt zu sein." Das Kaninchen seufzte. "Genaugenommen war ich der Architekt. Ich habe lediglich gesagt, ich bin kein Magier."

Sie hatten sich auf dem Achterdeck versammelt: Khiray, Pallys, Saljin, Sarmeen und Delley. Ein Mannschaftsmitglied führte das Ruder.

"Moment mal", platzte Delley heraus. "Der Architekt der Mauer? Zur Zeit von Galbrens Urahnen?"

Saljin hatte sich auf Deck niedergelassen und lehnte an der Kabinenwand. "Nur Magier leben so lange... Du warst auch das Kaninchen, das einst unser Volk besucht hat, nicht wahr? Von dem mir erzählt worden ist?"

Pallys nickte langsam. "Ich habe lange gelebt."

Die Ratte verschränkte die Arme. "Das sagst du andauernd."

Das Kaninchen lächelte schwach. "Es ist wahr. Ich habe Saljins Volk vor vierhundert Jahren kennengelernt und viele Jahrzehnte bei ihnen gelebt."

"Das glaube ich nicht..." Delley schritt ärgerlich auf und ab. "Du hast vier Jahrhunderte lang gelebt?"

"Ich bin später nach Sookandil gekommen und habe unter wechselnden Namen dort gelebt, mit kleinen Unterbrechungen." Pallys legte den Stab aus der Hand. "Hast du das nicht vermutet?" Er sah Khiray ins Gesicht.

"Zuviel Magie...", murmelte Khiray. "Ich habe etwas geahnt. Aber vermutet, nein, das kann ich nicht sagen." Aber es ergab Sinn. Pallys' Erzählungen. Seine Weigerung, über seine früheren Wanderungen zu sprechen. Seine Behauptung, er habe Reiche kommen und gehen sehen.

Reiche...

Allmählich lichtete sich der Schleier vor Khirays Augen. Er begann zu begreifen. Die Geschichte... die alte Geschichte, auf die Pallys heftiger reagiert hatte, als es angemessen gewesen wäre...

Delley lachte. "Als nächstes kriegen wir zu hören, daß du einer der Gründerväter des Armygan warst."

"Nein." Pallys senkte die Ohren. "Damals war ich gerade anderswo. Ich bin erst einige hundert Jahre später zum ersten Mal in den Armygan gekommen."

"Damals warst du..." Delley explodierte. "Das ist eintausenddreihundert Jahre her!"

Pallys sah zu ihm auf, einen undeutbaren Ausdruck in den Augen.

"Pallys..." Khiray faltete die Hände. "Pallys, die Geschichte vom Hort der Unsterblichen..."

Die Augen des alten Lehrers verschleierten sich. "Ja?"

"Es waren keine Leoparden, nicht wahr? Es waren Kaninchen."

Pallys zuckte die Achseln. "Leoparden machen sich besser als Helden einer Sage."

Götter. Es war also wahr. Pallys war nicht im Armygan geboren, sondern...

"Der Hort existiert also wahrhaftig. Du weißt, wo er ist."

"Ja. Ich habe viele Jahre damit zugebracht, ihn zu finden. Er gab mir ewiges Leben, aber nicht meine Jugend zurück. Ich war dennoch zufrieden, lange Zeit. Nur die Frage, die ewige Frage... Mein Bruder hatte ein Reich errichtet in all den Jahren, ein glückliches Reich, das Heim für viele Fellige war, während alles, was ich erreicht hatte, nur für mich allein war. Mein Bruder war ein König, ein Held, geliebt und geachtet. Als ich nach Syrradrea kam, war ich ein Fremder."

"Syrradrea?" Delley knirschte mit den Zähnen. "Das ist eine Legende! Eine Geschichte für Kinder und Narren! Eine Erzählung aus der Urheimat!"

"Heute, ja", gab Pallys zu. "Aber es war einst Wirklichkeit."

"Pallys", fragte Khiray vorsichtig, "wie alt bist du wirklich?"

Der alte Lehrer starrte träumerisch über die Reling auf den Fluß, das Fahrwasser, den Wald. "Ich erinnere mich... als ich noch ein kleines Kaninchen war... diese Erinnerungen vergehen nicht. Ich habe so viel vergessen, aber das nicht. Ich muß vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, und ich lief über ein Feld. Das, was einmal Syrradrea werden sollte, war nur ein Tal mit ein paar armseligen Hütten und Höfen. Die Sonne schien, es war Sommer, und der Geruch nach frischem Gras hing in der Luft. Ich weiß nicht, ob ich später wieder jemals so glücklich gewesen bin. Da war Erde unter meinen Pfoten, und kleine Bäche voll spritzendem Wasser, und Bäume, die bis in den Himmel aufzuragen schienen." Er sah Khiray an. "Ich weiß nicht, ob ich morgen oder in hundert Jahren sterben werde -- getötet werde, denn mein Alter schreitet nicht mehr voran, und Krankheiten können mir kaum etwas anhaben. Aber wenn ich sterbe, möchte ich mich daran erinnern, an einen wunderbaren Tag im Sommer vor vierzehntausend Jahren."

Niemand sagte etwas. Selbst Delley stand nur mit offener Schnauze da.

Langsam zog der Wald vorbei. Vögel zwitscherten in den Ästen, und graue Schatten huschten im Gezweig, ungerührt. Hinter der 'Silbernen Ansicc' schäumte weißes Wasser. Vor dem Schiff erstreckte sich die Weite des Armygan.

Sie fuhren den Fluß hinab, einer ungewissen Zukunft entgegen.


Ende von Kapitel Neun