H Khiray vom Fluß, Kapitel Fünf

Kapitel Fünf


Gouverneur Galbren betrachtete die Waffen mit jener Miene gespielter Langeweile, die Khiray als Zeichen höchsten Interesses zu deuten wußte. Der Fuchs war schon zu lange als Händler tätig, als daß er nicht in den Gesichtern potentieller Kunden zu lesen wußte.

"Das ist ja alles schön und gut..." Galbren drehte ein Jagdmesser in der Hand. "Aber Ihr verfügt nur über ein begrenztes Angebot. Ich muß meine Garden an Waffen ausbilden, die jederzeit zu ersetzen sind."

"Natürlich." Khiray versagte sich ein Lächeln. Galbren versuchte natürlich nur den Preis zu drücken. Der Gouverneur sammelte Waffen, wie schon die Ausstattung seines Büros deutlich machte. Diese Stücke aus Trollstahl nicht zu besitzen hätte sein Stolz nicht erlaubt. Die Waffen waren viel zu gut, als daß Galbren sie seinen Garden überlassen hätte; er wollte sie für sich.

"Außerdem wissen wir ja noch gar nichts über die Eigenschaften dieses, hm, Trollstahls. Vielleicht wird er schnell brüchig. Vielleicht rostet er. Man kann sich kaum auf Waffen verlassen, wenn man keine Erfahrung mit dem Material besitzt."

"Wie wahr." Der Fuchs hob die Schultern. "Es wäre unangenehm, wenn die Waffen mitten in einem Feldzug versagen." Er benutzte das ungebräuchliche Wort "Feldzug", um Galbrens Reaktion festzustellen. Der mächtige Wolf ging jedoch darüber hinweg, ohne zu blinzeln. Nun gut, so einfach waren ihm seine Pläne also nicht zu entlocken.

"Ihr wißt nicht zufällig, woher dieses Metall stammt?" Galbren begann, im Raum auf und ab zu gehen. "Die Fuchstauren haben es von -- Trollen erworben?"

"So wurde mir berichtet", nickte Khiray. "Ich selbst habe noch nie von Trollen gehört. Auch in den Men'schin-Städten nicht. Vielleicht kennen die Men'schin Trolle, aber wenn dem so ist, scheint es eine eher flüchtige Bekanntschaft zu sein."

"Wenn wir wüßten, wie man mit Trollen spricht, wo sie zu finden sind, welche Handelsware sie mögen, könnten wir einen Zwischenhändler ausschalten." Galbren strich sich durchs Kinnfell. "Diese Fuchstauren scheinen mir als Lieferanten nicht besonders zuverlässig zu sein -- es sind ja nicht einmal Fellige, nur halbe Tiere."

"Das sind sie nicht!" sagte Khiray, schärfer als beabsichtigt. Die Heftigkeit seiner Reaktion überraschte ihn selbst. Hatte er nicht noch am vergangenen Abend den gleichen Gedanken gehegt?

Aber er war aufgebracht gewesen, erschrocken, zornig, verwirrt. Er hatte nicht wirklich geglaubt, was er sich einzureden versuchte. Der Gedanke beschämte ihn.

"Sie sind Fellvolk wie wir", schloß er lahm und versuchte, seine brennenden Ohren zu überspielen. Galbren sah ihn scharf an, dann zuckte ein böses Lächeln um die Mundwinkel des Gouverneurs. Er hatte eine Schwäche gefunden, die er in der Verhandlung erbarmungslos ausnutzen würde.

"Ihr solltet Euch Eure Loyalitäten gut überlegen", sagte Galbren, offensichtlich bemüht, es nicht wie eine Drohung klingen zu lassen. "Zuerst die Familie, dann die Stadt, dann der Armygan. Man überschreitet sehr leicht Grenzen, wenn man sich mit anderen Spezies einläßt. Und plötzlich befindet man sich auf der anderen Seite, und es gibt kein Zurück mehr. Fuchstauren, Men'schin, Trolle... es sind Fremde. Ich bin ein Wolf. Ihr seid ein Fuchs. Aber wir sind beide Fellvolk, und wir teilen ein Land. Die anderen..."

Der Gouverneur setzte sich wieder in seinen Sessel, lehnte sich auf den Tisch und spielte eine Weile desinteressiert mit herumliegenden Papieren. Khiray sagte nichts, bis Galbren von sich aus das Gespräch wieder aufnahm.

"Und schließlich sind diese Lanzenstäbe...", der Gouverneur deutete auf das Dekka'shin, das Khiray als Ansichtsexemplar mitgebracht hatte, "...eine sehr ungewöhnliche Waffe, die spezielles Training erfordert. Nichts für Soldaten, möchte ich meinen."

Soldaten? Hatte Galbren sich versprochen, oder gab er wirklich zu, daß seine Garden Soldaten darstellen -- in welchem Krieg auch immer?

Khiray seufzte schwer. "Ja, Ihr habt wohl recht." Aufreizend langsam zog er die Scheide über die Klinge des Dekka'shin und hing das Messer wieder an seinen Gürtel. "Diese exotischen Dinge sind für einen Gouverneur wahrscheinlich nicht das Richtige. Ich sollte Eure kostbare Zeit nicht länger in Anspruch nehmen." Er wandte sich zum Gehen.

Galbren schüttelte den Kopf. "Nun, nun! Ich habe keinesfalls gesagt, daß ich gar keine Verwendung für diese Waffen hätte. Sicherlich kann man mit diesem neuen Material einige aufschlußreiche Experimente anstellen. Und ich gebe zu, meine Sammlung würde durch sie bereichert werden. Es ist nur so, daß der Preis mir ein wenig hoch erscheint."

"Es sind Einzelstücke." Khiray ließ seinen Blick über die Waffen an den Wänden wandern. "Wahrscheinlich sind es die einzigen aus Trollstahl im Armygan. Und sie würden auf viele Jahre hinaus die einzigen bleiben. Wie Ihr schon zu sagen beliebtet, das Angebot ist begrenzt, und mehr Stücke sind nicht zu beschaffen."

Galbren runzelte die Stirn. Zweifellos ärgerte er sich nun darüber, leichtfertig gesprochen zu haben. Vielleicht hatte er Khiray nicht hoch genug eingeschätzt.

Andererseits, vielleicht baute er im Geiste gerade eine verbale Falle für den Fuchs auf. Auch er war Händler. Khiray blieb wachsam.

"Habt Ihr bereits Angebote von Waffenschmieden eingeholt?" fragte der Gouverneur nach einer kurzen Pause.

"Von Hammyl unten am Hafen. Er sagte aber, er will seine Schmiede nicht verkaufen, und das müßte er, um zahlen zu können, was die Waffen wert sind."

"Hammyl beliebt zu übertreiben."

"Deso der Dachs sagte, ich solle besser alle Waffen einzeln an reiche Kaufleute veräußern. Aber ich dachte, solch seltene Stücke sollten besser zusammenbleiben."

Galbren nickte. "Wie wahr. Der Sammlerwert würde fallen, wenn jeder Trollstahl besäße. Ich werde Euch ein Angebot machen." Die Summe, die er nannte, war um die Hälfte niedriger als das, was Khiray verlangt hatte. Natürlich hatte Khiray die Verhandlung nicht mit dem Endpreis begonnen, den er zu erzielen gedachte, und Galbrens Angebot lag selbstverständlich unter dem, was er zu zahlen bereit war.

Khiray verzog das Gesicht, beinahe unmerklich nur, aber für Galbren sichtbar als Zeichen, daß er viel Zeit für die Verhandlung mitgebracht hatte. Dann begann das Feilschen ernsthaft.

* * *

Der junge Fuchs fühlte sich erschöpft, aber zufrieden, als er endlich Galbrens Büro verließ. Der Gouverneur war ein harter Verhandlungspartner. Aber die Waffen an ihn verkauft zu haben bedeutete Prestige und damit im Endeffekt einen größeren Vorteil, als wenn Khiray die Ware kurzfristig mit höherem Gewinn an verschiedene Händler verscherbelt hätte. Manchmal zahlte es sich aus, ein wenig in Werbung zu investieren.

Und was er von Galbren bekommen würde, wenn die Übergabe der Waffen stattfand, war mehr als genug, um auch den Fuchstauren einen Anteil auszubezahlen. Damit konnte er sein unbedachtes Geschäft korrigieren. Er hatte dennoch einen bedeutenden Profit gemacht und seinen Ruf als Händler in dieser Stadt weiter gefestigt. Saswin würde stolz sein.

Auf seinem Weg hinaus bemerkte er eine Gestalt in einer Nische. Sie war in einen schwarzen Umhang gekleidet, die jede Kontur effektiv verbarg. Khiray konnte nicht einmal annähernd die Rasse bestimmen: es mochte ein kleiner Leopard oder ein mittlerer Wolf oder ein großer Fuchs sein. Die Kapuze fiel über das Gesicht und hielt es im tiefen Schatten.

Die Gestalt saß auf einem Sims in der Nische und schien Khiray nicht zu bemerken. Meditierte sie? Beobachtete sie? Es hätte genausogut eine Steinfigur sein können, wenn die leichte Bewegung der Falten im Umhang nicht verraten hätte, daß das Wesen darunter atmete.

Khiray ging vorbei und versuchte sich unauffällig zu benehmen. Das mußte Galbrens geheimnisvoller Berater sein.

Es war ein Men'schin. Hätte die Gestalt eine Schnauze gehabt, wäre sie sicher unter der Kapuze zu sehen gewesen. Und ein Schwanz schien auch nicht vorhanden zu sein, obwohl Khiray nur schlecht in die Nische sehen konnte.

Aus den Tiefen der Kapuze wehte Khiray ein fauliger Geruch entgegen, und er ging ein wenig schneller. Der Berater sagte kein Wort, drehte auch nicht den Kopf. Als Khiray ins Tageslicht hinaus trat, atmete er auf. Warum verzichteten so viele Men'schin auf ihre persönliche Hygiene? Sie besaßen schließlich Seife und Mittel, sich die Zähne zu reinigen. Aber manche Men'schin verhielten sich, als hätten sie nie etwas davon gehört.

Bei Matrosen mochte das verständlich sein. Es gab nicht genug Frischwasser auf einem Schiff, das monatelang unterwegs war, um häufig zu baden, und Salzwasser griff Men'schin-Haut ebenso wie Fell an. Aber an Land? Bemerkten diese Leute nicht, wie sie anderen mit ihrem durchdringenden Geruch auf die Nerven gingen? Selbst die schwachen Nasen der Men'schin rümpften sich bei diesem Gestank. Kein Felliger hätte eine solche Schande auf sich genommen.

Und dann noch ein Berater des Gouverneurs! Der Geruch wies auf einen Mund voller fauliger Zähne hin. Khiray schüttelte sich. Unmöglich!

Dann wies er den Gedanken von sich. Er hatte Besseres zu tun, als über den Umgang des Gouverneurs nachzudenken. Er mußte zu den Fuchstauren und ihnen berichten, daß er ihnen einen Anteil am Gewinn einräumte. Das würde selbst Dek besänftigen.

Vielleicht könnten sie ihm ein wenig mehr von den Trollen erzählen... oder von ihrem Heimatland... oder von den Bergen, die sie durchquert hatten...

Er umrundete den Palast und schritt zielstrebig zum Stand der Fuchstauren hinüber. Es befanden sich keine weiteren Stände auf dem Platz; zwar fand täglich der eine oder andere Markt in Sookandil statt, manche sogar jeden Tag. Aber die regulären Marktplätze waren über die Stadt verstreut. Der Versammlungsplatz hinter dem Palast war besonderen Anlässen vorbehalten.

Khiray bemerkte, daß jemand die Leichen der Gehängten abgenommen hatte. Der Galgen war leer -- wartete auf seine nächsten Opfer.

Das Mauerstück, das einst jener unglückliche Gouverneur von Sookandil zu einem Schutz der Stadt hatte machen wollen, ragte hinter dem bescheidenen Stand der Fuchstauren auf und verdeckte die Nachmittagssonne. Wenige Passanten waren unterwegs, und keiner schien geneigt, etwas von den Fremden kaufen zu wollen.

Die meisten der sechs Fuchstauren hatten es sich auf Decken bequem gemacht. Einer, dessen Namen Khiray nicht wußte, schlief. Ein anderer schnitzte an einem Stück Holz herum. Dek polierte mit einem stoffumwickelten Holzstück sein Dekka'shin.

Saljin schien die einzige zu sein, die überhaupt nach Kunden Ausschau hielt. Sie stand -- nein, sie saß wie ein Hund auf ihrer Hinterhand -- hinter den aufgebauten Waren und blickte Khiray entgegen.

"Du bist gekommen", sagte sie, offenbar ein wenig überrascht.

"Das habe ich doch gesagt."

Dek erhob sich. "Wir hatten Wetten abgeschlossen."

Khiray erlaubte sich ein Grinsen. "Du hast verloren."

"Gewonnen", korrigierte Dek. Er nickte dem Fuchs zu. "Ich wußte, daß du wiederkommen würdest. Nicht, daß ich dich willkommen heißen würde."

"Das hat auch niemand verlangt." Khiray starrte dem Fuchstauren direkt ins Gesicht. Dek jagte ihm keine Angst mehr ein. Er mochte eineinhalbmal so schwer sein wie Khiray und sicherlich noch ein Stück stärker, als es den Anschein hatte... aber der junge Fuchs glaubte Dek jetzt einschätzen zu können.

"Dek, du bist unhöflich", sagte die zweite Fuchstaurin, die bis dahin über einem Stück Leder gebeugt gesessen hatte. "Er ist ein Kunde, oder nicht? Was können wir für dich tun?"

"Nun", begann Khiray, "einmal hätte ich gerne noch ein paar dieser Schnitzereien."

"Der Preis ist gestiegen", summte Saljin leise.

"Husch, Saljin!" sagte die andere Fuchstaurin streng. "Was darf es denn sein?"

Khiray begann eine Auswahl zu treffen. Der Einkauf war vielleicht nur ein Vorwand, überhaupt wieder mit den Fuchstauren ins Geschäft zu kommen, aber deshalb würde er noch lange nicht nach den erstbesten Stücken greifen. Sorgfältig begutachtete er eine hölzerne Blüte. "Ihr habt mir eure Namen noch nicht verraten."

Dek spielte mit einem Messer. "Du kennst meinen Namen. Genügt das nicht?"

"Deine Unhöflichkeit ist nicht tolerierbar, Dek", grollte der Fuchstaur mit dem Stirnband. Es war an diesem Tag ein anderes Stirnband, aber derselbe muskulöse Fuchstaur, der auch in der Kneipe gewesen war. "Du hast dir noch keinen Namen verdient."

Ein Schatten des Zorns huschte über Deks Gesicht. "Deshalb bin ich mitgekommen, oder nicht?"

"Ja", sagte der andere. "Aber mit deinem Verhalten machst du dir und dem Stamm keine Ehre. Man verdient sich keinen Namen durch rüde Worte oder ein schnelles Schwert." Er wandte sich an Khiray. "Ich bin Mikhoi vom Steilen Pfad. Dies hier ist Aryfaa vom Gelbkraut. Mein Vetter dort mit der Schnitzerei ist Halann von den Tiefen Grotten. Saljin von den Steinen hast du bereits kennengelernt. Der Schlafende ist Dokmaris von der Toten Wüste. Und Dek, nun ja."

"Dek von wem oder was?" Die Namen der Fuchstauren schienen alle nach demselben Muster zusammengesetzt zu sein. Khiray ahnte die Antwort, ehe Mikhoi sie ihm gab.

"Dek hat keinen Namen. Er ist noch auf der Suche nach der Tat, die ihm einen Namen einbringen wird. Obwohl..." Die Schnauze des Fuchstauren krauste sich. "Er wird sicher noch ein Weilchen suchen müssen."

Khiray nickte bedächtig. Sicher, in der illustren Gesellschaft von Kameraden, die alle schon einen Namen hatten, fühlte Dek sich zurückgesetzt und erniedrigt. Daher seine Aggressivität. Der Fuchstaur war jung und stürmisch, und ein Name schien ein wichtiges Zeichen von Prestige und Ruhm zu sein.

"Welche Tat muß man denn vollbringen, um einen Namen zu erhalten?" Khiray drehte ein Gefäß aus Hartholz in den Fingern, das mit kryptischen Mustern bedeckt war.

"Das ist verschieden." Mikhoi kratzte sich am Ohr. "Eine Arbeit, die viel Mühe und Zeit kostet... Aryfaa hier hat alle heilenden Eigenschaften des Gelbkrauts in langen Winternächten erforscht. Ein gewonnener Kampf gegen einen übermächtigen Gegner. Eine besonders mutige Tat unter Einsatz deines Lebens. Eine bedeutende Entdeckung. Oder ein Beweis der Meisterschaft auf einem schwierigen Gebiet. Ich habe meinen Namen gewonnen, als ich einen kürzeren Weg durch die Berge gefunden habe."

"Und Saljin?"

Die Fuchstaurin spitzte die Ohren. "Ich habe die Trolle gefunden."

"Tatsächlich?" Khiray war überrascht. Er hatte schon vermutet, daß die Bekanntschaft zwischen Fuchstauren und Trollen neueren Ursprungs war, aber daß ausgerechnet Saljin als erste diesen Kontakt hergestellt haben sollte, verwunderte ihn ein bißchen. Immerhin, sie war noch recht jung -- kaum älter als er selbst, wenn überhaupt -- und nicht gerade der Typ des rauhen Abenteurers.

Saljin legte die Ohren an. "Paßt dir das nicht?"

"Es ist... beeindruckend. Sollte dein Name dann nicht 'Saljin von den Trollen' sein?"

"Uh." Mikhoi räusperte sich. "Sie ist doch kein Troll..."

"Trolle haben eine gewisse Ähnlichkeit mit moosbewachsenen Steinen", erläuterte Saljin, weniger amüsiert als Khiray. "Besonders wenn sie ruhen. Ich hatte mein Lager direkt zwischen ihnen aufgeschlagen, ohne sie zu erkennen. In der Nacht bewegten sie sich. Ich wachte auf, und diese lebenden Felsen standen um mich herum... Sie hatten noch nie Fuchstauren gesehen. Ich lernte ihre Sprache. Die Sprache der Steine. Daher der Name."

"Du mußt an der Geschichte noch feilen", mahnte die andere Fuchstaurin. "Zu einem guten Namen gehört auch, daß man die Geschichte gut zu erzählen weiß."

"Ja, Tante Aryfaa. Aber er ist nur ein Städter. Er weiß sie doch sowieso nicht zu würdigen."

Khiray rümpfte die Nase. "Wieso nicht? Wir haben auch unsere Geschichten."

Saljin zuckte die Achseln. "Geschichten von Städtern. Entschuldige, ich will nicht unhöflich sein."

"Ihr mögt uns 'Städter' nicht besonders? Oder bin nur ich es, den du nicht magst?"

Saljin machte eine wegwerfende Handbewegung und tänzelte ungeduldig auf den Hinterbeinen. "Städte sind so... voller Mauern. Es ist zu wenig Platz zum Laufen da. Wer mag schon an solchen Orten leben?"

Khiray lächelte ein wenig. "Du bist zum ersten Mal in einer Stadt?" Wenn sie schon Sookandil nicht mochte, was würde sie dann zu den Städten der Men'schin sagen?

"Nein! -- Ja..." Saljin verschränkte die Arme. "Gut, ich bin zum ersten Mal in den Armygan mitgekommen. Wir ziehen nur selten hierher."

"Warum überhaupt? Wenn ihr die Städte nicht mögt..."

Aryfaa unterbrach ihn. "Wir benötigen gewisse Medizin, Kräuter, Öle, die wir nicht selbst herstellen können. Also müssen wir sie kaufen. Nur dafür treiben wir Handel mit dem Armygan."

"Aber es gab den Armygan nicht immer... Was habt ihr früher gemacht, ehe das Fellvolk hierher kam?"

Aryfaa umrundete den Stand und baute sich vor Khiray auf. Obgleich sie einen vollen Kopf kleiner war als der Fuchs, wirkte ihre Präsenz ungleich einschüchternder als Deks.

"Unseren Kindern beim Sterben zugesehen."

Khiray schluckte. "Entschuldige... Ich wollte nicht..."

"Dasselbe, was wir wieder tun werden, weil gewisse Händler in den Städten uns um unsere Ware betrügen!" Die Fuchstaurin schien plötzlich von Zorn erfüllt. Khiray wußte sich nicht zu rechtfertigen. Er hatte doch versucht, alles richtig zu machen... Aryfaa stach mit einem Finger nach seiner Brust. "Wir kommen nicht hierher, um die Schönheiten der Städte zu bewundern. Wir kommen nicht hierher, weil wir die gefrorenen Pässe und steinigen Pfade der Berge so gerne betreten. Wir kommen nicht hierher, weil zwischen unserem Volk und deinem eine so große Liebe herrscht. Nein, wir kommen, weil wir keine andere Wahl haben. Nur ihr kennt die Pflanzen und Kräuter, die in den Sümpfen wachsen, und nur hier bekommen wir unsere Medizin."

"Ich wollte nicht..." begann Khiray.

Aryfaa ließ sich nicht beirren. "Manche Leute fragen aber gar nicht erst nach Notwendigkeiten, wenn sie einen Vorteil wittern. Sie machen sich nicht die Mühe, mit uns zu reden, wo es doch viel bequemer ist, unsere Ware billig zu nehmen und sich daran zu bereichern."

"Ich dachte..." Khiray fühlte sich schrecklich. Kinder? Kinder, die starben, weil die Fuchstauren das Geld für die Medizin nicht mehr aufbringen konnten...? Kleine vierbeinige Füchse, deren Leichen im Feuer endeten, nur weil er seine gierigen Pfoten nicht vom Geschäft lassen konnte? "Es war doch nicht meine Absicht..."

"Tante Aryfaa!" rief Saljin.

"Hat er es verdient oder nicht?" brummte die ältere Fuchstaurin.

Saljin sah zu Khiray auf. Schließlich hob sie die Hand und wischte eine unfreiwillige Träne aus dem Augenwinkel des jungen Fuchses. "Nein, ich glaube, das hat er nicht." Sie schüttelte den Kopf. "Er ist keiner von diesen schlechten Händlern, von denen du erzählt hast."

"Ah bah!" Aryfaa winkte ab. "Eine Lektion kann nie schaden." Sie kehrte auf ihren Platz zurück.

Khiray war der Verzweiflung nahe. "Ich wollte nicht, daß jemand stirbt. Ich will nicht, daß eure Kinder... Ich..."

Dek lachte und bellte ein beleidigendes Wort in seiner Sprache.

Saljin nahm Khirays Hand. "Niemand wird sterben. Tante Aryfaa hat nur gerne einen dramatischen Auftritt."

"Aber..."

"Die Medizin ist für uns lebenswichtig. Glaubst du, wir vertrauen das Wohl unserer Kinder einer einzigen Händlergruppe an, die vielleicht in einem Schneesturm umkommt, oder in einer Gletscherspalte verlorengeht, oder unterwegs überfallen wird? Wir haben stets ausreichende Vorräte, um weitere Expeditionen hierher senden zu können. Wenn wir nicht ausreichend Medizin bekommen, kehren wir wieder zurück, sobald die Pässe frei sind. Oder andere Fuchstauren kommen. Es spielt keine Rolle."

Khiray beruhigte sich etwas. Natürlich. Die Fuchstauren hatten sich nie so benommen, als hinge das Wohl ihres Volkes vom Gelingen ihres Geschäfts ab. Sie hatten sogar in einer Bar getrunken.

Aber einen Moment lang hatte er jedes Wort geglaubt.

"Hört zu...", fing er erneut an. "Ich habe heute mit Gouverneur Galbren gesprochen, und gestern mit Lehrer Pallys. Ich mache einen guten Profit mit diesen Waffen aus Trollstahl, und es ist Sitte... Ich meine, ich sollte euch einen Anteil an diesem Geld einräumen. Das ist schließlich nur fair..."

Dek sprang auf. "Was sagst du da?"

"Gouverneur Galbren hat die Waffen gekauft und wird sie morgen abholen lassen..."

"Redest du von Almosen? Von großzügigen Gaben an die armen, bettelnden Fuchstauren?" Deks Hände ruhten auf seinen Waffen. Sein Körper bebte vor mühsam verhaltenem Zorn. Das Fell auf seinem Rücken war gesträubt, von seinem Nacken bis hinab zum Schwanz, der unruhig zuckte. "Von milden Spenden für die vierbeinigen Halbtiere, die ohne den wohltätigen Händler ihre Mission nicht erfüllen können?" Er machte ein paar Schritte auf Khiray zu.

"Ich habe nur gesagt, daß eine Profitbeteiligung durchaus..." Khiray wich zurück. Dies war kein Scheinangriff mehr. Deks Augen funkelten in tödlicher Wut.

Was habe ich jetzt wieder getan? fragte Khiray sich.

"Ich töte ihn!" brüllte Dek. Messer und Schwert flogen aus ihren Scheiden. Dek galoppierte und sprang Khiray an, ehe der Fuchs sich zur Flucht wenden konnte.

Mikhoi und Halann schritten ein und griffen nach Deks Armen, bevor der Fuchstaur Khiray verletzen konnte. "Für diese Beleidigung wird er mit dem Leben bezahlen!" Einige Passanten drehten sich nach der Quelle der Aufregung um. Ein junges Kaninchenpaar flüchtete sich in die nächste Gasse.

Dek fuchtelte noch immer mit den Waffen, obwohl er sich nicht aus dem Griff der beiden anderen befreien konnte.

"Lauf lieber", riet Aryfaa Khiray.

Der Fuchs ließ sich das nicht zweimal sagen. Er ergriff die Flucht, rannte die Hauptstraße hinab und ließ den Stand der Fuchstauren hinter sich. Deks Gebrüll verfolgte ihn dennoch. Flüche in der fremden Sprache stachen wie Dolche in seinen Rücken.

Khirays Füße schmerzten, und sein Atem ging zu schnell. Er bog in eine Seitenstraße ein und wurde langsamer. Warum nur war Dek so erregt gewesen? Er hatte ihn doch nicht beleidigen wollen!

Er schüttelte den Kopf. Diesem Fuchstauren konnte er es einfach nicht recht machen. Zuerst war es ihm zuwenig Geld gewesen, und Dek fühlte sich betrogen. Dann war es zuviel Geld, und er glaubte sich beleidigt. Leute mit zuviel Stolz waren etwas Furchtbares.

Khiray hatte die Stadtgrenzen erreicht, ehe ihm bewußt wurde, daß er nicht mehr in Richtung Hafen ging. Nun gut! Das war ohnehin nicht gerade ein glücklicher Tag gewesen... Das Geschäft mit Galbren schien plötzlich schal geworden zu sein.

Er setzte sich auf eine Mauer. Was war nur los? Zuerst hatte er sich von den Schauermärchen der älteren Fuchstaurin ins Bockshorn jagen lassen. Dann hatte er die Flucht ergriffen, vor einem Felligen, der einen Kopf kleiner war als er. Wie lächerlich! Dabei hatte er doch die ganze Zeit Waffen bei sich gehabt!

Der junge Fuchs nahm das Dekka'shin von seiner Schulter, das er sich übergeschnallt hatte. Am Gürtel hing noch das Messer; beides die Ware, die er Galbren zur Probe mitgebracht hatte. Und das Traummesser hatte er auch noch. Warum um alles in der Welt hatte er Dek nicht standgehalten, hatte seiner Wut wie ein Mann mit der Waffe in der Hand getrotzt? Der Fuchstaur hätte es nicht gewagt, ihn zu töten!

War er... ein Feigling?

Nein! Er hatte genug Straßenkämpfe mitgemacht. Zusammen mit Delley hatte er seinerzeit fünf Dachse in Drun'kaal besiegt, die nach einer durchzechten Nacht an seinen Geldbeutel wollten. Und damals war er erst vierzehn gewesen!

Aber es waren junge Dachse gewesen, und betrunken dazu.

Und die Schlägereien? Die finsteren Bars? Die Kaschemmen, in denen sich nur Schmuggler und Schurken herumtrieben? Die Hinterhöfe, auf denen ihnen dubiose Fracht angeboten worden war? Die Gassen der Men'schin-Städte mit ihren fremdartigen Gerüchen?

Hatte er nicht das Kämpfen von Delley gelernt?

Oder das Verstecken, das Weglaufen, das Schwanz-Einziehen?

Langsam wanderte er weiter, das Dekka'shin in der Hand. Vielleicht war er nicht aus dem Stoff, aus dem Abenteurer gemacht wurden... Aber hatte er sich denn nicht als Händler bewährt? Das Geschäft war gemacht, er hatte den Profit in der Tasche!

Und wenn Aryfaa ihm noch ein bißchen zugesetzt hätte, hätte er die Waffen zurückgegeben, sich tausendmal entschuldigt und wäre heimgeschlichen. Verdammnis! Auf diese Weise würde ihm jeder, aber auch wirklich jeder hartgesottene Händler das Fell über die Ohren ziehen. Wie konnte er nur auf die Mitleidsmasche hereinfallen...?

Aber das Bild seiner Vorstellung war noch lebendig: junge Fuchstauren, gerade noch beim Spielen, dahingerafft von einer geheimnisvollen Krankheit, in leblose, schlaffe Bündel verwandelt. Flammen, die Fell und Fleisch verschlangen. Und dies war keine Erfindung von Aryfaa, es war wirklich geschehen, ehe der Armygan existierte, und wahrscheinlich auch später noch... viele Male...

Nein! Morgen würde er Gold kassieren. Reines, blankes, glänzendes Gold! Dies war die einzige Wahrheit, die zählte. Sollten die Fuchstauren sehen, wo sie blieben. Wenn sie sich durch eine Gewinnbeteiligung so sehr beleidigt fühlten, würden sie eben keine bekommen. Er würde keine Masche mehr zählen lassen, kein dummes Geschwätz, das an sein weiches Herz appellierte. Keine Tricks, keine Überredung, keine Schmeichelei oder Drohung. Gold gegen Ware, und Ware gegen Gold, wie es sein Vater vor ihm gehalten hatte, und dessen Vater, und dessen Vater...

Die Sonne neigte sich dem Horizont zu. In der Gewißheit seines neugefundenen Entschlusses stapfte Khiray über eine Wiese. Hier in der Nähe hatten die Fuchstauren den Kampf trainiert, oder? Er entfernte die Lederscheiden, die die Klingen des Dekka'shin schützten, und durchschnitt probehalber mit der Waffe die Luft. Genau dies sollte sein Pfad sein. Unnachgiebig wie Stahl. So scharf wie diese Klinge. Jeder Händler würde sein Gegner sein, aber sein Verstand und seine Gerissenheit würde sie alle übertrumpfen.

Er wirbelte die Waffe in einem Bogen, wie er es bei den Fuchstauren gesehen hatte, und schnitt sich fast den Schwanz ab. Nun ja, die Übung fehlte noch... Vorsichtig machte er ein paar Übungen mit dem Dekka'shin, versuchte sich daran zu erinnern, wie man es hielt, wie man zustieß, wie man sich gegen feindliche Hiebe damit schützte.

Niemand kam den Weg entlang und fragte ihn, was er da täte, und er war dankbar dafür. Khiray war sich dessen bewußt, wie lächerlich dilettantisch er wirken mußte. Andererseits konnte das ja auch niemand beurteilen, von den Fuchstauren abgesehen. Das Dekka'shin war als Waffe in Sookandil ja völlig unbekannt.

Er nahm eine heroische Pose ein und versuchte sich vorzustellen, wie eine Armee von Banditen und Räubern auf ihn einstürmte. Gemessen hob er die Waffe.

Sollten sie nur kommen!

* * *

Die Sterne funkelten am Himmel. Khiray konnte keine einzige Wolke sehen. Ein leichter Bodennebel schwebte über den Senken der hügeligen Landschaft. Der nächste Morgen würde reich an Tau sein.

Der junge Fuchs lag auf dem Rücken im Gras auf der Spitze eines Hügels, dort, wo es noch trocken war. Die Mitternacht rückte näher. Den ganzen Abend über hatte er den Helden gespielt und ein wenig gegrübelt und schließlich dieses abgeschiedene Plätzchen gefunden, das von der Straße aus nicht einsehbar war. Von der Stadt aus waren Geräusche herübergedrungen, die mit den Stunden erstarben, und auch die fernen Lichter waren fast alle verloschen.

Ob jemand Saswin erzählt hatte, daß sein Sohn das Hasenpanier ergriffen hatte? Würde er enttäuscht sein? Oder vielmehr beruhigt, daß Khiray nicht eine Karriere als Abenteurer ins Auge faßte? Händler zu sein erforderte manchmal durchaus Mut, aber auch Vorsicht. Delleys Ansicht nach war Flucht meist der bessere Weg, um einen Konflikt zu beenden. Aber so einfach war das alles nicht...

Der Geruch, der in seine Nase stieg, kam ihm bekannt vor. Ein fauliger Gestank, verdorben, wie von einem nicht besonders frischen Müllhaufen. Tote Ratten. Langsam verwesendes Fleisch.

Er richtete sich in eine sitzende Position auf. So intensiv hatte er es zuvor nicht wahrgenommen... Vor ihm stand eine schwarzgekleidete Gestalt.

"Berater?"

"Kleiner Fuchs", sagte der Verhüllte.

Wieso kam Galbrens Men'schin-Verbündeter hierher? Was wollte er von ihm? Ging es um das Geschäft?

Wie konnte der Berater überhaupt wissen, daß er hier war?

Der Umhang des Men'schin floß wie lebendige Schwärze an der Gestalt herab. Das Sternenlicht schien ihn zu vermeiden; selbst der silbrige Nebel wich ihm aus.

"Was wünscht Ihr?" Khiray versuchte die Höflichkeit zu wahren, aber er war irritiert. Der Berater selbst war eine unheimliche Gestalt. Der Gestank, der von Sekunde zu Sekunde schlimmer zu werden schien, als kröche er in Khirays Nase, war eine Beleidigung für die Sinne. Und seine Stimme...

"Ich bin gekommen, um dich zu betrachten." Die Stimme war schleimig, blubbernd, ekelhaft. Sie entsprach in jeder Hinsicht dem Gestank, der von der Gestalt ausging.

"Was?" Khiray erhob sich. Der Berater war größer als er, aber wenn er ein Men'schin war, war das kein Wunder. Nach deren Maßstäben war Khiray klein. Selbst ein Wolf war für Men'schin nur durchschnittlich groß.

Dieser Umhang... Er bewegte sich nicht. Entweder bestand er aus sehr schwerem Material oder haftete an dem Men'schin. Nun, wenn der Berater sich nicht wusch, blieb der Umhang vielleicht an ihm kleben...

Irgendwie war der Gedanke nicht komisch. Khiray fand ihn sogar ziemlich unheimlich. Alles an diesem Berater, von seinem Auftreten bis zu seiner Stimme, war unwirklich, gespenstisch, und dennoch von beängstigender Klarheit. Eine dumpfe Aura der Furcht ging von der Schwärze aus, in der der Berater badete.

"Kleines Fellwesen. Bauer in einem Spiel, das du nicht verstehst, von dem du nichts ahnst." Galbrens Verbündeter schien nicht mit Khiray zu sprechen, sondern nur vor sich hin zu murmeln.

"Ich muß schon sehr bitten!" Alles in Khiray schrie danach, wegzulaufen. Aber er war schon einmal an diesem Tag mit eingezogenem Schwanz geflüchtet. Der Berater bedrohte ihn nicht. Er war nur, nun...

Unheimlich. Khiray fand kein besseres Wort. Vielleicht war es der Geruch. Vielleicht die Stimme. Aber es war nur ein Men'schin, träge im Kampf, ohne Klauen oder Fangzähne...

Sein Nackenfell war gesträubt. Er griff mit einer Hand an seinen Hinterkopf, um es glattzustreichen, aber vergeblich.

"Versuch nicht zu verstehen." Da schienen Augen unter der Kapuze zu sein, schwarze, glänzende Augen. Und es waren keine Men'schin-Augen. "Versuch nicht, dich zu wehren. Bleib ein kleines häßliches dummes Fellwesen, und alles ist gut." Der Umhang des Beraters wogte, als würde er lachen, aber statt Gelächter drang nur ein Blubbern aus der Kapuze, das Geräusch von Blasen, die in einem Sumpf aufstiegen.

Kleines häßliches dummes Fellwesen? Wer war dieser Berater, daß er ihn einfach beleidigen konnte? Sollte er das auf sich sitzen lassen? Nur weil er ein haarloser, kahler, räudiger Men'schin war, brauchte er nicht zu denken, daß er die Krone der Welt war!

Khiray griff nach der Kapuze. Sollte dieser Berater doch einmal sein Gesicht zeigen! Dann würde sich ja herausstellen, wer hier häßlich war!

Da war kein Gesicht.

Die Kapuze glitt vor seinem Griff zurück, schrumpfte in die Schwärze hinein, als sei sie ein Teil lebendiger Dunkelheit, weniger ein Kleidungsstück als ein Körperteil.

Da war kein Gesicht.

Khiray blieb erstarrt stehen, die Finger nur Zentimeter entfernt vom Kopf des Beraters. Er wünschte sich, rechtzeitig weggelaufen zu sein. Hundertmal lieber ein Feigling. Hundertmal...

Da war kein Gesicht.

Und auch kein Kopf.

Der Körper des Beraters, soweit Khiray sehen konnte, war bedeckt von einem wogenden, wimmelnden Knäuel aus Maden und Würmern. Was ein Kopf hätte sein können, war eine Ausbuchtung in der schleimigen Masse, konturlos und ständig in Bewegung. Es gab weder Augen, Mund noch Nase. Ein Hals war nicht erkennbar. Alles war in Bewegung; das grauweiße Wurmknäuel schien keinen festen Kern zu haben. Es dauerte einen Moment, bis Khiray begriff. Die Maden krochen nicht über den Körper des Beraters. Es gab keinen Körper außer den Maden. Die Maden waren der Berater.

Die Schwärze des verbliebenen Umhangs verhüllte von den Schultern abwärts den Rest des Grauens. Aber Khiray zweifelte nicht daran, daß auch der unsichtbare Teil aus demselben kriechenden, amorphen, lebenden Stoff bestand.

Da waren Geräusche... ein Gleiten von Körpern, ein Knacken chitinöser Hüllen, das millionenfache Ticken winziger Larvenkiefer. Khiray hätte nie geglaubt, daß man Würmer hören konnte -- diese Würmer aber produzierten unablässig leise, ekelhafte Laute.

Der Gestank verstopfte Khirays Nase. Fauliger Zerfall. Langsam ließ er seine Hand sinken.

Was war der Berater? Wie konnte es so etwas geben?

Er griff nach dem Dekka'shin, das noch im Gras lag, ohne ein Auge von der Gestalt zu nehmen. Unmöglich. Es war unmöglich. Würmer.

Würmer.

Ein kalter Schauer lief von seinem Nacken aus das Rückgrat hinab bis in die Schwanzspitze. Er nahm kaum wahr, daß sein Fell so sehr gesträubt war, daß seine Weste plötzlich von doppelt soviel Fuchs ausgefüllt schien.

Käfer krabbelten über die Oberfläche der Wurmmasse, winzige schwarze Tierchen; Aaskäfer. Sie erreichten die Vorderseite des Kopfklumpens und setzten sich dicht beieinander in zwei Gruppen nieder.

Augen, facettierte Augen aus Käferleibern.

Aus den Tiefen des Körpers schlängelte sich ein weißer Bandwurm, ringelte sich unterhalb der Augen auf und formte Lippen.

"Kleines dummes Fellwesen", sagte der Berater. Der Bandwurm bewegte sich im Takt seiner Worte, gab den Blick frei auf eine wurmige Höhle, eine Parodie eines Mundes. Es gab keine Zähne. Aber eine Zunge war vorhanden: ein platter Egel, rot und aufgedunsen. "Du solltest nicht mit mir spielen. Geh heim. Rette wenigstens dein Leben."

Dann lachte das Wesen wieder. Die graue Masse der Würmer wurde wie von einem Beben geschüttelt.

Khiray schlug zu. Seine Finger hatten das Dekka'shin gefunden und schwangen es in derselben Bewegung herum, die er den ganzen Abend über geübt hatte. Die Lederscheide, die nicht zugeschnürt war, flog durch den Schwung des Hiebs von der Klinge, und der kalte Trollstahl durchschnitt horizontal die Schwärze des Umhangs.

Der Berater fiel auseinander. Der Umhang schien, anstatt in zwei Hälften geteilt zu werden, in neblige Fetzen zu zerfallen, und entblößte den Rest des Wurmkörpers. Das Dekka'shin halbierte den Berater, aber das Gelächter erstarb nicht. Die Würmer und Maden verloren ihren Zusammenhalt. Ein großer Haufen wimmelnder Tiere, jetzt völlig ohne Kontur und Gestalt, fiel zu Boden. Die Würmer krochen in alle Richtungen auseinander.

Khiray hieb mehrmals auf die Reste des Wurmkörpers ein, aber er erreichte nur, daß die Klinge mit Wurmresten besudelt wurde. Der Berater selbst, die Essenz des Beraters, schien nicht mehr da zu sein. Nur noch Würmer und Maden, die sich panisch in die Erde bohrten. Ein später Vogel entdeckte die Tiere, ließ sich in Khirays Nähe nieder (mit einem wachsamen Auge auf den Fuchs) und begann zu picken.

Erst jetzt merkte Khiray, wie sehr er zitterte. Das war kein normales, körperliches, sterbliches Geschöpf gewesen. Ein -- Geist, Gespenst, spirituelles Ungeheuer? In Khirays Weltbild gab es für diese Wesen keinen Platz. Er war nie in dieser Weise mit Magie in Berührung gekommen; alle magischen Werke, die er je gesehen hatte, waren eher technischer Natur wie die Hitzeschleife im Bauch der 'Silbernen Ansicc'.

Er betrachtete den Wurmhaufen, der ständig kleiner wurde. Die Würmer allein jagten ihm keine Angst mehr ein. Was immer sie besessen hatte, war fort.

Warum hatte der Berater gerade ihn aufgesucht?

Rette wenigstens dein Leben... Dein Leben... Die Worte des Un-Wesens hallten in seinem Kopf wider. Es hatte ihn nicht angegriffen, es hatte nicht einmal Khirays Attacke ernstgenommen. Nicht der Berater war die Bedrohung.

Von plötzlicher düsterer Ahnung erfüllt, begann Khiray zu rennen. Fort von der Wiese. Zurück zur Straße. In die Stadt. Das Dekka'shin fest umklammert, hastete er zum Hafen hinunter. Sein Herz hämmerte nicht nur vor Anstrengung, sondern auch vor Furcht.

Dein Leben.

Er wußte, daß er zu spät kommen würde. Er hatte den Abend vertrödelt, und was immer passiert sein mochte...

Das Schiff war unbeleuchtet bis auf die nötigen Positionslampen an der Reling. Stille empfing ihn.

Er fand Onkel Farlin auf der Treppe zu den Kabinen. Jemand hatte ihn niedergeschlagen, und er war einige Stufen gestürzt. Khiray konnte keine gebrochenen Knochen feststellen. Er war versucht, einen Eimer Wasser zur Wiederbelebung zu holen, aber es gab Wichtigeres zu tun.

Die Waffen waren fort. Seine Kabine war durchwühlt worden, und jede einzelne Waffe aus Trollstahl war verschwunden. Ansonsten fehlte nichts. Selbst die Statuette von Saljin stand noch auf dem Regal.

Khiray trat wieder hinaus auf den Gang. Ob der Dieb noch hier war? Wohl kaum. Die alten Planken knarrten; er hätte ihn inzwischen gehört.

Wer war noch an Bord, außer Farlin? Delley? Nein, Delley überwachte in der Werkstatt der Kesselflicker Arbeiten an einem Druckrohr. Die Arbeit hatte den ganzen Tag gedauert und würde vermutlich auch noch die ganze Nacht über dauern; das einmal erhitzte Metall durfte nicht abkühlen, was keine Pause erlaubte. Die Kesselflicker wechselten sich ab, aber Delley würde die Arbeit von Anfang bis Ende persönlich leiten wollen. Alle anderen hatten Landgang; das Schiff war vollständig entladen, und neue Fracht wurde noch nicht erwartet. Niemand an Bord... außer...

"Vater?" Khiray fühlte sich, als würde er immer noch rennen -- atemlos, gehetzt. "Vater? Saswin?"

Niemand antwortete auf sein Rufen. Ein dumpfes Stöhnen von unten deutete an, daß Farlin das Bewußtsein wiedererlangte.

Wo war Saswin?

Khiray stürmte durch das Schiff. In der Kabine des Navigators war niemand. Im Speisesaal war niemand. "Vater!"

Er stieg die Leiter zur Ruderkabine hinauf.

Saswin stand über das Steuerrad gebeugt, lehnte mit seinem ganzen Gewicht auf dem schweren Holz. In seinem Rücken steckte ein Dolch, mit solcher Gewalt hineingetrieben, daß sein Rückgrat völlig durchtrennt war. Die Spitze des langen Dolches war aus der Brust wieder ausgetreten und hatte ihn an das Steuer genagelt.

Ein Dolch aus Trollstahl.

Eine Fuchstauren-Waffe.

"Vater?" Khiray berührte die Schulter des Toten. "Ich wollte nicht..."

Langsam sank er neben seinem Vater zu Boden und begann still zu weinen.


Ende von Kapitel Fünf