Kapitel Vier


"Khiray!"

Verschlafen richtete sich der junge Fuchs im Bett auf. Die letzten Stunden hatte er sich unruhig hin und her gewälzt, unfähig, echte Ruhe zu finden, aber zu erschöpft, um wirklich aufzuwachen.

"Ich komme gleich", gab er zurück.

"Beeil' dich. Wir haben schon Brot aufgeschnitten." Die tiefe Stimme konnte nur Onkel Farlin gehören. Saswins Bruder war das dritte und letzte Familienmitglied an Bord der 'Silbernen Ansicc'. Auch Khirays Mutter Ayashlee hatte einen Bruder gehabt, der für Saswin arbeitete, doch als Ayashlee in einem unglücklichen Unfall vor vielen Jahren starb, hatte er das Schiff verlassen, um sein Glück anderswo zu suchen. Saswin hatte sich nie eine neue Lebenspartnerin gesucht; Khiray wußte, daß er trotz all der Zeit noch immer um die schöne Füchsin trauerte.

Khiray bürstete sich das Fell gründlich und wusch sich den Schlaf aus den Augen. Men'schin mußten sich täglich am ganzen Körper waschen, da sie schwitzten; den meisten Rassen des Fellvolks genügte es, sich an kritischen Stellen mit Wasser zu reinigen und ansonsten die Bürste zu benutzen. Die Dauer der morgendlichen Hygiene unterschied sich dennoch nicht sehr; das dichte Fell und besonders die langen, leicht verfilzenden Haare des Schwanzes bedurften sorgfältiger Pflege. Kein Felliger, nicht einmal der ärmste, hätte sich je mit filzigem Fell sehen lassen, es sei denn er wäre krank... anders als die Men'schin, bei denen die Körperpflege mitunter nicht sehr hoch im Kurs stand.

Als er endlich den Speisesaal betrat, hatten die anderen schon ohne ihn das Frühstück begonnen. Von den zwölf Mann, die die Besatzung der 'Silbernen Ansicc' stellten, waren nur fünf augenblicklich anwesend: Saswin, Farlin, Delley, Frachtmeister Shooshun -- ein nicht mehr ganz junger Kater mit einer dicken Hornbrille und gestreiftem Fell -- und Khiray selbst. Die beiden Arbeiter und die zwei Seeleute, Delleys Assistent, der Koch und der Passagiersteward -- der mangels Passagieren meist für die Betreuung lebender Fracht zuständig war -- hatten für die Dauer des Aufenthalts Landurlaub und waren in aller Frühe vom Schiff verschwunden.

"Ich habe bereits für einen Teil unserer eigenen Fracht Abnehmer gefunden, die die neuen Preise bezahlen", eröffnete Saswin beim Essen. "Die Kunden, die ihre Fracht erwarten, müssen noch beliefert werden. Khiray, könntest du einen günstigen Karren leihen? Wir haben etliche Säcke mit Saatgut auf einen Hof zu schaffen."

Khiray nickte. "Ich muß aber auch noch Pallys seine Bücher vorbeibringen. Die überlasse ich keinem Träger. Letztes Jahr haben sie sie fast in den Schlamm fallengelassen."

"Hast du einen Abnehmer für diese neuen Waffen?"

"Noch nicht. Vielleicht wird Galbren selbst sie kaufen wollen. Mit all den neuen Gardisten kann er zusätzliche Waffen vielleicht brauchen."

Saswin runzelte die Stirn. "Sieh dich vor, wenn du mit Galbren Geschäfte machst. Er zieht dir das Fell über die Ohren. Er war schon ein gerissener Händler, als er noch nicht Gouverneur war."

"Wir könnten die Waffen auch selbst behalten", mischte sich Delley ein. "Warum das Beste verkaufen? Auch wenn du sie noch so billig bekommen hast."

Khiray zuckte zusammen. Billig? Eine Nacht Schlafes hatte ihn dieser Handel schon gekostet -- und fast das Fell in der Kneipe am vergangenen Abend.

"Wir brauchen keine neuen Waffen", brummte Farlin. Er war ein sehr kräftiger und großer Fuchs; schwer gebaut, wenngleich nicht dick -- Khiray hatte in seinem ganzen Leben weder dicke Füchse noch dicke Otter gesehen. "Der Fluß ist hier oben nicht gerade voll von Piraten, weißt du."

"Man kann nie genug Waffen haben", kicherte Delley.

"Ratten!" stöhnte Onkel Farlin.

Khiray hörte den ewigen fröhlichen Streitgesprächen der beiden schon lange nicht mehr zu. Er dachte daran, wie er die Waffen am vorteilhaftesten weiterverkaufen konnte.

Und was die Fuchstauren gerade tun mochten...

Wieso nur mußte er dauernd an die Fuchstauren denken? Das Geschäft war abgeschlossen. Es galt, Gewinn zu machen, sich den Profit zu sichern, den nächsten Handel vorzubereiten. Er konnte beim Schnitzer vorbeischauen, ob irgendwelche interessante neue Erotika zu finden war -- für seinen speziellen Men'schin-Kunden in Hanmur. Es galt, die bestellte Ware auszuliefern, die Fracht den Kunden zu übergeben und für die eigenen Güter Käufer zu finden. Das allein sollte sein Anliegen sein.

Aber Saljin -- Saljin von den Steinen -- beschäftigte ihn mehr, als er freiwillig zugegeben hätte. Was kauften die Fuchstauren von dem Geld, wenn sie nicht in Kneipen herumhingen? Warum machten sie sich die Mühe, den langen Weg aus ihrer Heimat in den Armygan zu kommen?

Vielleicht konnte er noch einmal mit ihnen sprechen. Wenn er den richtigen Vorwand fand...

* * *

Handel unter den Felligen brauchte seine Zeit. Man besprach das Wetter, die Gesundheit der Kinder, die Qualität des Wassers und die neuesten Gerüchte, ehe man Waren und Gold auch nur erwähnte. Dann trank man einen heißen Tee -- eines der teuersten Getränke, da die Teeblätter von den Men'schin stammten und jenseits der Lakenda-Berge angebaut wurden --, um sich gegenseitiger Wertschätzung zu versichern. Nur auf dem Markt wurden schnelle Käufe getätigt, wenn man Waren des täglichen Bedarfs besorgen mußte. Oder wenn man jemanden übers Ohr hauen wollte.

Khiray kam an diesem Tag nicht mehr dazu, seine eigenen Dinge zu erledigen, und auch der folgende Tag war schon weit fortgeschritten, ehe er die bestellten Bücher zu Pallys dem Kaninchen bringen konnte. Die großen Mengen an Saatgut, Getreide, Baumwolle und getrockneten Früchten gingen vor. Eigentlich waren die Kleinigkeiten, mit denen Khiray seine Geschäfte machte, typische Otter-Waren; Bücher jedoch gehörten nicht dazu. Otter neigten dazu, mit Wasser ein wenig sorglos umzugehen, und hätten die Bücher sicherlich verdorben.

Pallys war der Lehrer von Sookandil, länger, als Khiray sich zurückerinnern konnte. Im Armygan gab es keine Schulpflicht, dennoch waren die meisten Felligen bestrebt, ihren Kindern zumindest die Grundlagen des Rechnens, Lesens und Schreibens sowie Wissen über praktische Dinge wie Gesetze, Handel und Bräuche beizubringen. Drei Viertel der Kinder lernten diese Dinge bei Pallys, der dafür ein kleines Entgelt oder Naturalien erhielt. Ein Teil der restlichen Kinder wurde von den Eltern unterrichtet, wie Khiray selbst: die ständigen Reisen an Bord der 'Silbernen Ansicc' hatten ihm nie erlaubt, bei Pallys in die Schule zu gehen.

Bei anderen Kindern war es die große Entfernung von den Höfen zur Stadt oder das knappe Geld, das es ihnen nicht erlaubte, zu Pallys zu kommen (obgleich Pallys dafür bekannt war, daß er auch ohne Gegenleistung schon unterrichtet hatte). Nur wenige Kinder in Sookandil erhielten überhaupt keine Ausbildung, weil sie Geld zum Leben verdienen mußten und keine Zeit für etwas anderes hatten.

Unter den Men'schin wurde Schule strenger gehandhabt. Junge Men'schin mußten in jedem Fall eine Schule besuchen und dort weit mehr lernen als die Felligen. Im Armygan folgten die Kinder meist den Eltern in ihr Geschäft. Drei bis vier Jahre unterrichtete Pallys sie -- mit Unterbrechungen in der Erntezeit und nicht die ganze Woche lang, damit sie ihren Eltern helfen konnten --, dann wurden sie auf dem heimischen Hof oder im eigenen Geschäft angelernt. Mit zwölf bis vierzehn Jahren wurden sie in die Lehre geschickt und kehrten dann als Gesellen oder Meister heim. Kinder, die das Geschäft der Eltern nicht weiterführen wollten oder konnten, lernten meist einen fremden Beruf.

Khiray hatte schon als Kind von seiner Mutter das Lesen und Schreiben gelernt sowie das Rechnen von seinem Vater. Seine Eltern und Onkel hatten ihm auch Geschichte und Gesetze, Zeichnen und Landeskunde beigebracht. Und Delley... nun, Delley hatte ihm Rattenwissen vermittelt, was Saswin und Ayashlee sicher nicht gern gesehen hätten, wenn sie es gewußt hätten. Aber Delley war verschwiegen, und Khiray wußte ebenso den Mund zu halten. Khiray lernte zu beobachten und zu erkennen, sich zu verstecken und zu tarnen, mit Vernunft zu trinken und zu fliehen und zu kämpfen -- fair und unfair -- und Frauen Freude zu bereiten, lange ehe er sein erstes Mädchen in Drun'kaal hatte.

Natürlich war er keine Ratte und brachte Delley mit seinen Fuchs-Interpretationen von Rattenwissen oftmals zur Verzweiflung. Aber Delley war sein bester Freund geworden -- ein besserer Freund, als er an Land je gehabt hatte.

Doch Khirays Fernweh brachte einen großen Wissensdurst mit sich. In den Städten der Men'schin erlernte Khiray die Sprache des Imperiums Dharwil und kaufte Bücher zu allen erdenklichen Themen. Auch durchforschte er jede neue Stadt im Armygan, die sie anliefen, nach Büchern. Was er gelernt hatte, war ihm nicht genug.

Es kostete ihn jedoch einige Mühe, zwischen den erdachten Geschichten und den wirklichen Berichten zu unterscheiden, die er erwarb, und manchmal verwechselte er lebende Personen mit erfundenen. Was allerdings kein Wunder war: selbst sachkundige Autoren neigten dazu, Legenden und Märchen in ihren Büchern mit aufzuführen und das Leben bekannter Herrscher und Händler mit viel Aufwand zu verbrämen, bis es den farbigen Geschichten der Sagen glich.

Khiray hatte Pallys erst spät kennengelernt, mit zwölf Jahren. Von seinen Freunden an Land, die bei dem Kaninchen lernten, wußte er, was Pallys unterrichtete. Er hielt die Themen für unter seiner Würde. Er konnte sehr gut schreiben und war von seinem Vater bereits gründlich in die Kunst des Handels eingeführt worden. Warum sollte er sich da mit einem ältlichen Kaninchen abgeben, das mühsam Kindern die Buchstaben beibrachte?

Saswin hatte ihn damals mit einigen Büchern zu Pallys geschickt. Der Lehrer bestellte gelegentlich neue Literatur in anderen Städten; er selbst reiste schon lange nicht mehr. Als er Khiray die Tür öffnete und ihn hereinbat, hätte der Fuchs fast seine Lieferung fallengelassen.

Pallys besaß Bücher -- Bücher über Bücher. Mehr Bücher, als Khiray selbst in Buchhandlungen gesehen hatte. Die Wohnung des Kaninchens war voll von Folianten, Schriftrollen, gebundenen und gehefteten Seiten, riesigen Atlanten, kleinen Handbüchern, Lehrbüchern, Romanen und Novellen, alle sorgfältig geordnet und mit Zetteln voller Anmerkungen versehen. Die engen Zimmer wurden von Regalen eingenommen, wohin Khiray auch schaute.

"Hast du die alle gelesen?" fragte er ungläubig.

Pallys nickte langsam. "In einem langen Leben."

Khiray hatte damals nicht gewußt, worauf Pallys anspielte. Erst viele Jahre später erfuhr er, warum Pallys' Ohren zerschunden und zerfetzt wirkten, warum er hinkte und woher die Narben unter seinem weißen Fell stammten. Pallys war nicht immer Lehrer gewesen. Aber er hatte Bücher immer geliebt -- mehr als seine Freunde.

Von diesem Tag an war Khiray von Pallys fasziniert gewesen. Wenn das Kaninchen so viele Bücher besaß, dann mußte es auch Dinge wissen, die über das Malen von Buchstaben hinausgingen. Er hatte viele Fragen gestellt und viele Antworten erhalten -- die zu noch mehr Fragen führten.

Khiray war älter und ein winziges bißchen weiser geworden seither. Immer, wenn er in Sookandil war, pflegte er einige Zeit mit Pallys zu verbringen, und sie tauschten Gedanken und Erfahrungen aus. Khiray machte kein Geheimnis daraus, daß er sich nach der Fremde sehnte -- aber dies war das einzige Thema, über das Pallys nicht sprechen wollte.

Die Sonne ging bereits unter, als Khiray mit seinem Paket an Pallys' Haus ankam. Die Wohnung des Lehrers lag in einem alten, nicht besonders gut erhaltenen Gebäude abseits der reichen Viertel. Lehrer wurden nicht besonders gut bezahlt, und Pallys' Großzügigkeit, was sein Honorar anging, und seine Liebe zu Büchern verschlechterten seine Finanzen weiter.

Pallys öffnete, ehe Khiray klopfen konnte. "Ich habe dich schon erwartet."

"Schön, dich wieder einmal zu sehen", sagte Khiray. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß Pallys den ganzen Tag hinter dem Fenster gestanden und auf seine Bücher gewartet hatte.

"Ihr seid spät dran."

Khiray seufzte und erzählte zum wiederholten Male von den defekten Kesseln. Pallys nickte bedächtig zu jedem Wort, obgleich er von Maschinen nicht allzuviel verstand.

"Hast du es dir inzwischen überlegt?" fragte er schließlich.

Khiray grinste. Es war ein alter Spruch zwischen ihnen -- nur halb ein Scherz. Pallys hatte ihm einmal den Vorschlag gemacht, doch eine Ausbildung an einer Universität zu beginnen. Gelehrte und Magier, Richter und hohe Beamte mußten an einer der großen Universitäten studieren, und Pallys war der Meinung, daß Khiray zu Höherem berufen sei als zum Händler. Auch Galbren hatte an einer Universität studiert, wenn Khiray die Gerüchte richtig verstanden hatte. In Drun'kaal selbst... Der junge Fuchs beneidete ihn fast.

Aber nur fast. Händler zu sein erlaubte ihm immerhin Reisen in einem gewissen Maß. Als Richter oder Gouverneur wäre er zeitlebens an einen Ort gebunden gewesen. Allein der Beruf des Magiers hätte Khiray gereizt, aber die Anforderungen dort waren hoch, und er verstand auch noch gar nichts von der Magie. So weit abseits der großen Städte gab es kaum einen Magier, bei dem er als Vorbereitung auf das Studium in die Lehre hätte gehen können. Und außerdem brauchte man als Magier ein gewisses Talent. Wie immer das aussehen mochte, Khiray war sich sicher, nie dergleichen in sich gespürt zu haben.

Nein, wenn er kein Reisender und Entdecker sein konnte, und wenn er nicht in der großen, aufregenden Stadt leben würde, dann war das Leben als Händler die nächstbeste Option. Es war nicht das schlechteste Schicksal, selbst auf einer Route fern der Hauptstadt.

Pallys bot Khiray einen Sitz und Tee an, und eine Weile plauderten sie über dies und das, ehe das Gespräch unvermeidlich auf die Fuchstauren kam.

"Ich habe sie schon einmal gesehen", eröffnete ihm Pallys. "Sie halten sich nie lange in den Städten auf. Keiner weiß etwas Genaues über sie. Aber sie stellen sehr schöne Handarbeiten her."

"Und Waffen."

"Waffen?" Pallys hob eine Augenbraue und stellte die langen Ohren auf. "Ich habe nie gehört, daß sie besonders gute Waffen angeboten hätten."

"Dann scheint das das erste Mal zu sein." Khiray reichte dem Kaninchen eines der Traummesser, die er erstanden hatte. Er trug es seit dem Vorfall in der Kneipe immer am Gürtel.

Pallys entdeckte die verborgene Klinge sofort. Die Schärfe und Härte des Metalls überraschten sogar ihn, und er kannte die hervorragende Bewaffnung der Drun'kaaler Soldaten.

"Trollstahl", erläuterte Khiray.

"Wenn sie damals schon dergleichen gehabt hätten, dann hätte sich das sicher herumgesprochen." Pallys setzte das Messer wieder zusammen und gab es zurück.

"Vielleicht sind sie erst in diesen Jahren auf die Trolle gestoßen", mutmaßte Khiray. "Ich würde sie fragen, aber..."

"Hm?" Pallys blickte auf und sah ihm scharf in die Augen. Er merkte sofort, wenn Khiray sich unbehaglich fühlte.

So erzählte der Fuchs dem Kaninchen von den Waffen, die er gekauft hatte, dem Streit in der Kneipe und seinem Dilemma. "Ich möchte niemanden betrügen, aber ich kann die Waffen auch schlecht zurückgeben. Es würde so aussehen, als sei ich damit nicht zufrieden."

"Und du möchtest das Geschäft gerne machen."

Khiray wand sich. "Ja."

"Du kannst ihnen einen Anteil am Profit einräumen", entschied Pallys. "Eine Gewinnbeteiligung. Schätze, was die Waffen einbringen, und zahle die Fuchstauren damit aus."

Der Fuchs nickte heftig. "Ja. Das ist eine Idee."

"Und bis du die Waffen verkauft hast, kannst du jederzeit an ihren Stand und etwas anderes kaufen. Ich bin mir sicher, du kannst alles, was sie anbieten, zumindest zum selben Preis weiterverkaufen. Und du hättest einen Vorwand, um mit ihnen zu reden."

Khiray schalt sich einen Narren, daß er nicht selbst darauf gekommen war. Aber er mußte sich eingestehen, daß er ein wenig Angst vor einem Wiedersehen hatte... vielleicht hatte er nur nicht daran denken wollen.

"Was hältst du von Galbren?" fragte das Kaninchen unvermittelt und ging daran, seine Pfeife mit Würzkräutern zu stopfen.

"Galbren?" Khiray dachte nur kurz nach. "Geschickter Händler. Guter Redner. Liebt die Macht."

"Was will er mit den neuen Garden?"

"Ich weiß nicht." Khiray teilte Pallys all seine Gedanken zu diesem Thema mit. Pallys nickte bedächtig, sagte aber seinerseits kein Wort und weigerte sich, auf Khirays Fragen einzugehen. So verschlossen war Pallys dem jungen Fuchs noch nie begegnet.

Ahnte das Kaninchen etwas, das Khiray sich nicht einmal vorstellen konnte?

* * *

Es war zu spät, um noch zu den Fuchstauren zu gehen, als Khiray endlich Pallys' Haus verließ. Die Läden hatten geschlossen, und es war nirgendwo mehr ein Geschäft zu machen. Saswin traf sich noch mit einem Kunden, und Delley arbeitete vermutlich die halbe Nacht an den Maschinen und wollte nicht gestört werden. Kurz, es gab für Khiray nichts zu tun.

Langsam wanderte er durch die Stadt, betrachtete hier und da eine Veränderung, einen Umbau, einen Abriß. Er wünschte sich, Lysh wäre noch hier. Außer ihr hatte er in Sookandil eigentlich keine echten Freunde mehr; der einzige, den er gerne wiedergesehen hätte, war nicht in der Stadt, und ein anderer Bekannter hatte sich den Garden angeschlossen und war im Trainingslager -- aber das war ohnehin kein Freund, mit dem man eine klare, trockene, helle Nacht teilen konnte.

Er hatte die Grenzen der Stadt verlassen und war auf die weitläufigen Wiesen im Norden gelangt, ehe er sich entschieden hatte, was er tun konnte. Bäume säumten den Weg in einer hügeligen Landschaft; die unbesetzten Weiden wiesen kleine Haine auf; der Mond beschien steinerne Mauern und alte hölzerne Zäune. Eine Brücke spann sich über einen leise plätschernden Fluß.

Auf einer Wiese standen zwei Fuchstauren. Sie waren zu weit entfernt, als daß Khiray sie erkannt hätte. Der Fuchs sah sich um. Kein Felliger war zu sehen. Vorsichtig schlich er näher, immer in der Deckung der Bäume. Er wußte selbst nicht, warum er so vorsichtig war -- das war schließlich seine Stadt, nicht ihre.

Die Fuchstauren führten Waffen mit sich. Es waren Dekka'shin, jene im Armygan unbekannten Doppelklingen-Lanzen. Khiray hatte die erworbenen Dekka'shin sorgfältig inspiziert. Sie bestanden aus einem dicken Holzstab und zwei schwertähnlichen Klingen, die an beiden Enden des Stabes angebracht waren. Die Klingen waren leicht gekrümmt und mit Aussparungen und Haken versehen.

Khiray wußte nicht, wie man eine solche Waffe führen sollte -- sie war recht schwer, und die zwei Klingen schienen eher den Träger zu bedrohen als einen Gegner.

Aber die Fuchstauren hantierten geschickt mit ihren Waffen. Sie ließen sie über ihrem Kopf, vor ihrem Körper und um sich herum kreisen. Ab und zu führten sie einen stilisierten Angriff gegeneinander, um im letzten Moment die Waffen abzuwenden und aneinander vorbeizustürmen.

Khiray erkannte nun Saljin und ihren Bruder Dek. Beide schienen wahre Meister dieser Waffe zu sein, denn schon nach wenigen Minuten waren ihre Bewegungen so schnell geworden, daß er ihnen nicht mehr folgen konnte. Natürlich hatten sie im Umgang mit den Dekka'shin einen Vorteil: sie besaßen vier Beine und hatten damit einen festeren Stand. Die schnelle Bewegung und Rotation der Klingenstäbe konnte sie nicht aus dem Gleichgewicht bringen.

Aber dies schmälerte die Leistung der Fuchstauren kaum. Die Präzision, mit der sie die Waffen führten, war bewundernswert. Sie mußten ja nicht nur ihren Partner verfehlen, sondern auch sich selbst, und angesichts ihrer nach hinten gestreckten Körper war es reine Kunst, daß sie mit intakten Schwänzen aus dem Scheingefecht hervorgingen.

Plötzlich ruckte Deks Kopf herum, und die Augen des Fuchstauren richteten sich auf den stillen Beobachter. Dek stieß einen Schrei der Wut aus und begann, auf Khiray zuzustürmen.

Khiray überlegte eine Sekunde lang, ob er sich in Sicherheit bringen sollte. Der Fuchstaur konnte es nicht ernst meinen. Er konnte nicht erwarten, ungeschoren davonzukommen, wenn er einen Bürger Sookandils tötete... und Khiray war Sookandiler, obgleich er auf dem Schiff lebte. Galbren würde ihn hängen lassen.

Aber Dek brach den Angriff nicht ab. In vollem Galopp, die Waffe angelegt, raste er weiter. Er übersprang einen Zaun und war in Steinwurfweite, ehe Khiray seine Beine vom Boden lösen konnte.

Irrsinn! Er dachte daran, wegzulaufen, aber der Fuchstaur konnte schneller rennen als er. Es mußte ein Scheinangriff sein. Khiray hatte gesehen, wie Dek Saljin verfehlt hatte. Eine Mutprobe. Nichts weiter.

Deks Pfoten schienen den Boden zu erschüttern. Mondlicht troff von der Klinge wie Blut.

Khiray hätte nicht rennen können -- selbst wenn er es gewollt hätte.

Zentimeter vor seinem Gesicht durchschnitt die Klinge leere Luft. Khiray konnte den Zug an seiner Schnauze spüren. Dek rannte an ihm vorbei, drehte um, hieb ein weiteres Mal zu, und wieder sauste das Dekka'shin an seinem Fell vorüber. Hätte er sich bewegt, hätte die Waffe eine tiefe Wunde verursacht.

Enttäuscht hielt Dek inne und grunzte. "Städter!"

Saljin erreichte die beiden und warf Dek eine Tasche zu. "Du verrückter Angeber! Du bringst Schande über den Stamm!" Sie fügte noch etwas in einer musikalischen, singenden Sprache hinzu, was sich nichtsdestotrotz wie eine Beschimpfung anhörte.

Gelassen fischte Dek aus seiner Tasche zwei Lederscheiden, streifte sie über die Klingen und trabte dann wortlos davon.

"Entschuldige bitte meinen Bruder." Saljin schlug die Augen nieder. "Er ist nicht ganz bei sich. Eine gute Tracht Prügel würde ihm guttun."

"Ich kann dir nicht widersprechen", seufzte Khiray. Noch ein Scheinangriff mehr, und er hätte einen frischen Schurz benötigt. Es überraschte ihn selbst, wie normal seine Stimme noch klang. "Ich habe eurem Kampfspiel zugesehen. Sehr beeindruckend. Ich glaube nicht, daß ein Zweibeiner die Dekka'shin so führen könnte."

Saljin musterte ihn von oben bis unten. "Vielleicht... vielleicht nicht. Es käme auf einen Versuch an." Sie wandte sich zum Gehen.

Khiray räusperte sich. "Morgen... morgen sehe ich noch einmal bei euch vorbei. Ich hätte Interesse an... ein paar Skulpturen."

"Die Preise sind gestiegen in letzter Zeit", sagte Saljin.

Khiray zuckte die Achseln. "Ich bin Händler. Ich kann immer noch ein gutes Geschäft machen."

Saljin blickte ihn in einer Mischung aus Erheiterung und Abneigung an. "Das kann ich mir vorstellen." Dann trabte sie ihrem Bruder hinterher.

Khiray schüttelte den Kopf. Es sollte ihm eigentlich egal sein, was Saljin von ihm hielt, aber das war es nicht. Sie behandelte ihn abschätzig, und das ärgerte ihn.

Warum nur? Er sah ihr nach -- bewunderte ihren gleichmäßigen, tänzerischen Trab, ihren wehenden Schweif -- und fühlte sich angeekelt von sich selbst. Die Fuchstauren waren Fremde. Sie gehörten nicht hierher. Sie waren fellig, aber keine Fellige; sie mochten teilweise wie Füchse aussehen, aber sie waren nur halbe Tiere. Jedenfalls an den Stellen, auf die es ankam. Wilde, die mit Waffen fuchtelten und versuchten, ehrliche Bürger einzuschüchtern.

Eine Welle des Zorns überkam ihn. Dek sollte sich nur vorsehen! Dies waren zivilisierte Lande! Mit einiger Verspätung brannte Kampfeslust in seinen Adern. Er holte tief Luft.

Das schwebende Aroma von Saljins Fell drang in seine Nüstern. Widerstreitende Emotionen erfaßten ihn. Die Fuchstaurin mochte ihn nicht. Dek mochte ihn nicht. Aber er fühlte sich zu den Fuchstauren hingezogen. Sie repräsentierten seinen Traum von der Ferne.

Und Saljin...

Verdammt, sie war ein Tier! Eine Wilde aus irgendeinem götterverlassenen Land ohne Zivilisation! Wahrscheinlich lebten die Fuchstauren noch in Höhlen...

Er ertappte sich dabei, wie er in der Luft schnüffelte, als könnte er Saljin allein dadurch wieder heraufbeschwören. Hastig schlang er die Arme um seinen Körper und lief den ganzen Weg zurück in die Stadt. Er machte einen Bogen um den Platz, wo die Fuchstauren ihren Stand aufgebaut hatten. Einen großen Bogen.

In dieser Nacht versuchte er, sich von der Spannung zu erleichtern, die sich in ihm aufgebaut hatte. Er dachte an Lysh und gemeinsame Nächte mit ihr... und was er tun würde, wäre sie hier... aber selbst in seiner Phantasie wurde Lysh zu Saljin, und sein Blick wanderte immer wieder zu der Statuette der Fuchstaurin. Und als er der Versuchung endlich nachgab, fühlte er sich anschließend elend und matt.


Ende von Kapitel Vier